Odenwald: Waldschläfer

Drei Tage auf dem europäischen Fernwanderweg E8 und zwei Nächte im Wald – Unterwegs von Lindenfels nach Obernburg-Elsenfeld

Das Abenteuer beginnt am Karfreitag. Ich frage mich, ob die sechs dicken Scheiben Roggenbrot, die sich vor mir auftürmen wie ein römischer Wachturm, für den ersten Tag der Tour ausreichen. Neben dem Frühstückstisch stehen die Rucksäcke für die dreitägige Wanderung quer durch den Odenwald, ein Mittelgebirge, das sich die Bundesländer Hessen, Bayern und Baden-Württemberg teilen.

Das erste Mal haben mein Freund und ich Biwaksäcke eingepackt, regenfeste Hüllen für Schlafsack und Isomatte. Damit wollen wir draußen übernachten. Im Wald. Allein. Dort, wo die Wildschweine wühlen und die Rehe röhren.

Bei dem Gedanken, unter freiem Himmel zu übernachten, kribbelt es in mir, als hätte ich zu viel Waldmeisterbrause gegessen. Die Aufregung bitzelt und schäumt das Unbehagen hinweg, das wie ein Holzwurm an meinem Selbstbewusstein nagt. Ich bin ein zivilisationsgeschädigter Wohlstandsmensch. Der Wald ist das Symbol für das Unheimliche, für das Finstere. Im Wald verscharren Triebtäter ihre Opfer. Im Wald lauern Wölfe (zumindest ein Wolf soll mittlerweile im Odenwald zu Hause sein). Im Wald verirren sich Wanderer und kehren nie mehr zurück.

Eine Freundin hatte uns von ihrem Versuch erzählt, nachts draußen zu schlafen. Überall habe es im Laub um sie geraschelt. Sie habe kaum ein Auge zugemacht. Ein anderes Mal sei sie mit ihrem Bruder von Wildschweinen (oder vielleicht waren es Zombies?) überrascht worden. Mitten in der Nacht hätten sie das Weite gesucht. Den größten Teil ihres Gepäcks haben sie zurückgelassen und erst am nächsten Tag wieder abgeholt.

Krabbeln Ameisen in Nasenlöcher?

Die Frage ist also: Wie viel Natur halte ich aus? Krabbeln Ameisen in Nasenlöcher? Hält der Biwaksack dicht, wenn es regnet? Bekomme ich Gänsehaut, wenn ein Kauz ruft?

Ich habe unzählige Nächte im Zelt verbracht; ganz ohne ein Dach über dem Kopf habe ich selten übernachtet. Die nur wenige Millimeter dicke Zeltplane reicht aus, um sich der Illusion hinzugeben, man sei vor den Unbillen der Welt geschützt – und sie hält Krabbeltiere fern. Zelten kommt allerdings für die geplante Dreitagstour nicht nicht in Frage.

Als wir zu unserer ersten Biwakwanderung aufbrechen, ist die dritte Welle der Corona-Pandemie in vollem Gange. Gasthäuser, Pensionen, Hotels und Zeltplätze sind seit Monaten für Touristen geschlossen. Wir wollen unbedingt Urlaub machen, wenigstens drei Tage lang. Mir fehlen seit Monaten die Höhepunkte, die Feste, die wie Perlen im Alltag glänzen. Ich vermisse die heiteren Ausflüge in die Umgebung, die heiße Schokolade in einer Hütte im Pfälzer Wald, das Stück Streuselkuchen in einem Café. Die Welt um mich ist einsam geworden. Mir erscheint das Leben wie eine Fehlstelle – ein heller Fleck auf der Tapete, auf dem jahrelang ein Bild hing, das nun fort ist. Diagnose: Corona-Blues.

Wildzelten ist in Deutschland definitiv nicht gestattet. Biwakieren ist eine Grauzone. Die Sache ist nicht direkt illegal, aber nur weil etwas nicht verboten ist, ist es nicht unbedingt erlaubt. Biwakieren wird in der Regel geduldet, solange man sich nicht gerade mitten im Naturschutzgebiet schlafen legt, keinen Müll hinterlässt und kein Feuer macht. Unser genialer Plan für die Osterfeiertage: Wir lassen uns nicht erwischen.

Es war sonniges, aber kühles Wetter gemeldet. Der Winter hatte im April noch einmal ausgeholt. Wir erwarteten Temperaturen um den Gefrierpunkt. Also habe ich zwei Schlafsäcke eingepackt. Und die Daunenjacke. Und die lange Merino-Unterwäsche.

Im Nibelungenland warten die Drachen

Vor uns liegen rund 47 Kilometer auf dem E8, dem europäischen Fernwanderweg, der von Irland nach Istanbul läuft und in der Nähe unserer Wohnstatt Mannheim den Odenwald durchquert. Ausgangspunkt der Etappe ist Lindenfels, eine beschauliche Kleinstadt südlich von Aschaffenburg, über der die gleichnamige Burgruine thront, und in der man Drachen begegnen kann.

Dort, wie auch andernorts im Odenwald, erinnern Skulpturen der Fabelwesen an die Nibelungensaga. Lindenfels liegt mitten im »Nibelungenland«, wo der Drachentöter Siegfried einst durch die Wälder gezogen sein soll. Der E8 verläuft teilweise auf dem Nibelungesteig. Ich werde dort übernachten, wo einst Drachen gehaust haben sollen.

Schon am Bahnhof in Bensheim, wo wir auf den Bus nach Lindenfels warten, beißt sich der Wind in meinen Wangen fest. Er wird mich die ganze Tour über kneifen. Ich bereue, keine Handschuhe eingepackt zu haben, und hüpfe auf der Stelle, um mich aufzuwärmen. Mit meinem großen Rucksack komme ich mir vor wie eine Riesenschildkröte in einem Schwimmbad. Auffälliger geht es kaum. Ich bin ein Hiking-Turtle, eine Ninja-Kriegerin im Mittelgebirge.

Aber es interessiert sich niemand für uns. Keiner fragt, wo wir mit all dem Gepäck hinwollen. Kein Förster stellt uns kritische Fragen. Nur einmal spricht uns ein älterer Herr auf unsere für einen Tagesausflug überdimensionierten Rucksäcke an. Er sitzt mit mehreren grauhaarigen Damen auf einer Bank und hält seine Falten in die Frühlingssonne. Gegenüber schneidet sich ein Bach durch die Wiesen, an deren Rändern sich der Wald wie ein Schutzzaun um die Idylle gelegt hat.

»Sieht aus, als hättet ihr es noch weit«, sagt er.

»Es geht«, antworten wir und schweigen uns über die weiteren Pläne aus. Wer weiß, ob der alte Herr nicht ein Spion der Waldpolizei ist.

Der Mann lächelt. Er scheint unsere Pläne zu erahnen und sich mit uns über unser Abenteuer zu freuen.

Der E8 führt geruhsam durch den Odenwald, ohne allzu kräftezehrende Anstiege oder unwegsame Pfade. Die Äcker sind noch braun wie Jägerschnitzelsauce, in den Gärten leuchten Hyazinthen in Zuckerwattepastelltönen. Auf dem rund fünfhundert Meter hohen »Lärmfeuer« machen wir eine längere Pause. Auf einer geschwungenen Holzbank liegend schaue ich nach oben. Vor dem gleißend blauen Himmel färben sich die Baumwipfel schwarz. Hinter uns sitzen Wanderer und rasten.

Eine Frau erzählt, dass sie ihren Mann abgeholt habe. Der übernachte manchmal allein im Wald. Wer weiß, wie viele Menschen nachts überall im Odenwald herumliegen?

Nachtlager hinter einem Sportplatz

Den ersten Schlafplatz finden wir hinter einem Sportlerheim, das neben einem vermoosten Sportplatz steht. Unser Nachtlager ist vom Weg aus nicht einsehbar. Es liegt in einem Nadelwäldchen auf einem nach Ober-Mossau abfallenden Hügel, umgeben von Odenwaldwiesen, die nassgrün glänzen. Die Bäume stehen dicht und halten den Wind ab. Den Boden bedeckt ein Gemisch aus Nadeln und Laub aus dem Vorjahr. Wir räumen Müll, Steine und Äste beiseite. Vorbeikommen dürfte hier an diesem Abend kaum noch jemand. Ein Wolf ist nicht in Sicht.

Es ist noch nicht mal acht Uhr am Abend, als wir uns in den Biwaksäcken verkriechen. Mein Freund schnippt eine Zecke von seinem Schlafsack. Es ist das gefährlichste Tier, dem wir auf der dreitägigen Tour begegnen. Zwischen den Nadeln krabbelt eine winzige Spinne davon. Es riecht nach Harz und Erde.

Eine ägyptische Mumie ist nicht besser eingepackt als ich. Bewegen kann ich mich in meinen zwei Schlafsäcken samt Biwaksack und zusätzlicher dünner Seideneinlage kaum noch. Nur ein winziges Fenster in den Kapuzen meiner beiden Schlafsäcke verbindet mich noch mit der Außenwelt. Sobald ich mich drehe, verrutscht die Luke vor meiner Nase und mir geht die Luft aus. Also liege ich still.

Die Sonne färbt die kahlen Stämme der Nadelbäume orange. Abendvögel singen. Es dauert nicht lange, bis ich in einen unruhigen Dämmerzustand verfalle.

Es ist noch nicht komplett dunkel, als mich mein Freund weckt.

Ein Reh, flüstert er, dort stehe ein Reh und schaue uns an. In meinem mumienartigen Zustand bin ich bewegungsunfähig. Ich versuche, mich Richtung Reh zu drehen. Aber ohne Brille verschwimmt das braune Tier im braunen Wald. Bevor ich mich aus meinem Wickelgefängnis befreit und nach meiner Brille geangelt habe, ist das Reh längst verschwunden. Später hören wir sein Röhren.

Ich bin viel zu erschöpft, um mich zu gruseln. Die Geräusche der Nacht sind weit entfernt. In meiner Biwakhöhle fühle ich mich sicher geborgen.

Der nächste Morgen beginnt früh. Meine Gelenke sind steif. Immer wieder stecke ich die Hände unter die Achseln, um sie aufzuwärmen. Wir räumen den Platz. Dass er unser Nachtlager war, sieht man ihm nicht an. Der Mond steht noch am hellen Himmel, als wüsste er nicht, dass der Tag schon angebrochen ist.

Wir nehmen unser Frühstück auf die Hand. Es ist zu kalt, um in Ruhe zu essen. Wir werden uns warmlaufen und uns in Michelstadt einen Kaffee zum Mitnehmen gönnen. Ich beiße in meine Roggenbutterstulle. Auf einem Hang am Ortseingang von Ober-Mossau wächst Bärlauch. Ich rupfe ein Blättchen von dem grashüpfergrünen Feld ab und peppe damit mein Frühstück auf.

Besuch beim Konditorweltmeister

Vor zehn Uhr erreichen wir Michelstadt. Der Ort ist vor allem für sein Rathaus bekannt, ein Fachwerkbau auf Stelzen mit zwei niedlichen Türmchen aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Es sieht aus, als käme es direkt aus einem Märchen der Gebrüder Grimm.

Mein Freund und ich haben an diesem Morgen kein Auge für architektonische Schönheiten. Im Supermarkt kaufen wir Wasser und Proviant, dann interessieren uns nur noch Heißgetränke und Semmeln. Eine kleine Bäckerei in der Nähe des Stadtkerns hat schon geöffnet. Wir setzen uns mit Kaffee, heißer Schokolade, Teilchen und Brötchen auf ein Mäuerchen am Straßenrand und frühstücken.

Und dann wiederholen wir das Ganze. In Michelstadt, schräg gegenüber vom alten Märchenrathaus, liegt die Konditorei Siefert. Siefert ist ehemaliger Konditorweltmeister. Sein Wikipedia-Eintrag liest sich wie der eines Olympiasiegers: »1997 erhielt er gemeinsam mit Manfred Bacher bei den Weltmeisterschaften des Konditorhandwerks den Titel zugesprochen. Darüber hinaus war er sechsmal hintereinander deutscher Meister, so oft wie noch niemand vor ihm, und wechselte schließlich ins Trainerlager. Als Trainer der deutschen Konditor-Nationalmannschaft bereitet er die Teilnehmer seit 2004 auf die Weltmeisterschaften vor.«

An einem Café mit solch einem Renommee können wir nicht vorbeigehen, ohne uns mit einem zweiten Frühstück einzudecken. In den Auslagen liegen süße Kunstwerke, schöner als die Broschen einer Königin.

Kurz hinter Michelstadt betreten wir wieder den Wald. Wir lassen uns Zeit, tun es dem älteren Herrn gleich und genießen die Mittagssonne auf einer Bank. Noch immer kneift der Wind. Aber ich habe die erste Nacht überlebt, also wird es in der zweiten auch gehen.

Die letzten Kilometer führen uns an Überbleibseln der Römer vorbei. Wir sind auf dem Westlichen Limes-Wanderweg unterwegs: Grundmauern alter Wehrtürme, eine nachgebaute Pallisade aus dicken Stämme, die wie riesige gespitze Bleistifte aus dem Boden ragen, die Reste eines Kastells. Der Weg muss ein Paradies für Latein- und Geschichtslehrer sein. Bis Obernburg folgen wir den archäologischen Spuren der Legionäre.

Für die Nacht wollen wir in der Schmuggler-Hütte Quartier beziehen, einem kleinen Schutzhüttchen im Wald gegenüber einer römischen Ausgrabung. Etwa einen Kilometer vorher treffen wir auf zwei weitere Wanderer. Mittlerweile ist es spät am Abend. Ihre Rucksäcke sind ebenfalls groß. Ob sie es auch auf die Schmuggler-Hütte abgesehen haben? Dann wäre wieder der Wald unser Hotel. Es ist mir gleich. Irgendwo wird sich ein Plätzchen für uns finden.

Aber die beiden anderern Spätwanderer haben, so scheint es, ein anderers Ziel. Wir haben das Hüttchen für uns. Ein komfortabler Unterschlupf von rund sechs Quadratmetern. Eine Sitzbank läuft innen an den Wänden des Häuschens entlang. In einer Holzkassette finden wir das Hüttenbuch und zwei Fläschchen Schnaps, die wir Wanderern überlassen, die dringender als wir eine Stärkung brauchen. Der Boden ist steinig.

Als wir bereits in unseren Biwaksäcken liegen, hören wir noch einmal Stimmen. Sie kommen näher. Ich habe wenig Lust, Abendspaziergängern zur Wahl unseres Schlafplatzes Rede und Antwort zu stehen. Es sind zwei junge Männer auf Mountainbikes. Sie radeln zügig vorbei. Wir bleiben unentdeckt.

Die Nacht ist wärmer als die erste. Ich fühle mich wie in einem Kokon aus Plüsch. Als ich die Beine ausstrecke, muss ich an eine Katze denken, die sich an einem Kaminfeuer räkelt.

Am Morgen zeigt das Thermometer, das in der Hütte hängt, fünf Grad. Ich merke, wie die Kälte in den vergangenen zwei Tagen an mir gezehrt hat. Wie ein zusätzliches Gewicht hängt sie mir in den Knochen. Meine Haut spannt und meine Augenlider fühlen sich dicker an, als wäre darin zusätzliches Wasser gelagert.

Trotzdem hat der Morgen etwas Zauberhaftes. Wir werfen lange Schatten auf zartes Grün. Ein Eichhörnchen klettert einen Baumstamm empor, und ein Feldhase rennt über unseren Weg. Es ist Ostersonntag, die Obstbäume blühen schon und tragen Weiß und Rosa wie geklöppelte Spitzen. Gegen Mittag überqueren wir bei Obernburg den Main. Wir erreichen Bayern. Im Wald waren kein Räuber, im Wald war kein Corona. Im Wald war ich nur ich.

Dir hat diese Wandergeschichte aus dem Odenwald gefallen? Dann schau dich gerne hier weiter um und lerne den St.-Jost-Pilgerweg, den Nibelungensteig oder den Panoramaweg näher kennen.

E8 – von Lindenfels nach Obernburg-Elsenfeld

Land: Deutschland

Anreise: Lindenfels ist beispielsweise von Bensheim aus mit dem Bus erreichbar. Obernburg-Elsenfeld hat einen Bahnanschluss.

Gehzeit: Etwa zweieinhalb Tage für rund 47 Kilometer (2. bis 4. April 2021). Die Tour lässt sich problemlos auch nur mit einer Übernachtung laufen. Den GPS-Track könnt ihr hier herunterladen.

Herausforderungen: Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt pausenlos draußen zu sein, war für mich ungewohnt. Mehrere Schichten Kleidung und ein dicker Schlafsack helfen. Wer das Biwakieren scheut, kann sich zum Beispiel in Michelstadt einquartieren. Ansonsten ist dieses Teilstück des E8 nicht schwierig zu begehen. Es gibt einige kürzere Anstiege, ansonsten aber weder besonders unwegsames Geländer oder andere Schwierigkeiten. Als zweitägige Tour ist die Strecke für einen Wochenendausflug gut geeignet.

Höhepunkte: Morgenstimmung auf den Odenwaldhöhen, Rathaus Michelstadt, Türme der alten Stadtbefestigung, in Obernburg, Eichhörnchen, Feldhase, römische Ausgrabungen, Abenstimmung im Wald, weite Wiesen

Fernwanderlesetipp: Falls du mehr über das Wandern auf weiten Wegen erfahren willst oder einfach eine Wandergeschichte zum längeren Schmökern suchst, habe ich einen Buchtipp für dich. In »Mittendrin im Draußen« berichte ich vom 1.000 Kilometer langen Bibbulmun in Westaustralien. Jede Menge Fernwandererlebnisse inklusive. 

4 Kommentare Gib deinen ab

  1. lecw sagt:

    Ach, da gibt es noch andere, die im Wald schlafen!
    Corina macht erfinderisch, wir haben es letztes Jahr Anfang Mai auch getan, auf dem Südrandweg. Da war es nicht ganz so kalt, aber auch ein besonderes Erlebnis. Jeder sollte mal im Wald geschlafen haben! Trotzdem sitzen wir abends lieber im Biergarten … 😇

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    1. Jana sagt:

      Ja, ich hoffe, wie haben die Wald Tiere nicht gestört. Biergarten finde ich auch gut. Vielleicht geht das ja bald wieder…

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