Rheinhessen: Tiny Houses

Der Wingertsheisjerweg bei Westhofen – Eine Winterwanderung im Rebenland

An dem Schild, das den Einstieg in den Westhofener Wingertsheisjerweg anzeigt, ist etwas faul. Für die knapp neun Kilometer lange Rundwanderung soll man vier Stunden unterwegs sein. Das erscheint mir selbst bei meinem gemütlichen Wandertempo übertrieben. Zwar habe ich schon Wanderstrecken hinter mir, bei denen mehr als zwei Kilometer pro Stunde nicht drin waren, aber in diesen besonderen Fällen waren Berge oder andere Hindernisse im Weg. Vor mir liegen an diesem Tag nur harmlose rheinhessische Hügel, die sich wie die Kurven einer Bikinischönheit voller Selbstbewusstsein dem Wanderer präsentieren.

»Wahrscheinlich hat jemand die durchschnittliche Gehgeschwindigkeit mit der Dauer des Wanderwegs verwechselt«, sagt mein Freund.

Ich hoffe, dass er recht hat, bleibe aber skeptisch. Am Sentier des Roches in den Vogesen haben wir dem Schild auch nicht geglaubt und waren am Ende des Tages rund siebeneinhalb Stunden unterwegs.

Weinberge, überall Weinberge

An diesem Dezembernachmittag ist mir nicht nach einem langen Marsch. Die Wolken hängen tief, feuchte Kälte zieht sofort durch alle Ritzen der Kleidung. Die Weinstöcke sind kahl und sehen aus wie verhungerte Wurzelgnome.

Ich ziehe mir die Mütze tief über die Ohren und wir wandern los, einen sanften Anstieg entlang, um uns nur winterliche Reben. Der Boden schmatzt, als wir über Wiesen laufen. An unseren Schuhen klebt Erde. Weit entfernt drehen sich Windräder. Aus dem Tal recken sich ein paar Häuser nach oben, ein Kreuz wartet auf einer Anhöhe auf uns. Vor den riesigen grauen Fäusten des Himmel bildet es eine dramatische Kulisse. Ein Greifvogel zieht seine Kreise und hofft, dass eine unvorsichtige Maus aus einem der Löcher kriecht, die den Boden durchziehen wie einen Schweizer Käse.

Der Wingertsheisjerweg gäbe im Winter eine gute Kulisse für einen Krimi ab. Allerdinge dürfte es der Mörder schwerhaben, unentdeckt zu bleiben, denn die Strecke ist von allen Seiten gut einsehbar. Nichts versperrt die Sicht in den Wonnegau. Uns ist zu kalt, um auf den Bänken Platz zu nehmen, die überall am Wegrand aufgestellt sind – aber ich kann mir gut vorstellen, an einem lauwarmen Herbstabend dort zu sitzen und dabei zuzusehen, wie die Sonne verschwindet.

Winzige Schutzhütten für die Winzer

Die eigentliche Attraktion des Wanderwegs ist aber nicht die Weitsicht, mit der die Strecke an klaren Tagen punktet, sondern eine Reihe winziger Steinhäuschen: die Wingertsheisjer. Ich verliebe mich sofort in die Unterschlüpfe, die kaum groß genug sind, dass ein erwachsener Mensch sich darin ausstrecken kann. Sie wirken wie Spielzeug – wie zu groß geratene Puppenhäuser. Einst waren es Schutzhütten für müde Winzer, die bei Hitze und Kälte im Weinberg schufteten.

Rund um Westhofen gibt es noch mehr als fünfzig dieser putzigen Gebäude. An vielen anderen Orten wurden sie nur aus Holz gebaut. Die steinernen Häuschen aus Westhofen haben die Jahrhunderte überdauert. Sie tragen Namen wie »Liebesnest«, »Kommandozentrale«, »Missions-Heisje« oder »Chinesisches Heisje«. Letzteres hat ein spitz zulaufendes Dach und sieht damit wie der Strohhut eines asiatischen Reisbauern aus. Infoschilder zieren die Außenwände der Minihäuser. Sie sind nicht ohne ironischen Unterton.

Ein besonderes Häuschen – dank Plakette

Da ist zum Beispiel das »Ausgzeichnete Heisje« aus dem Jahr 1766. Es heißt so, weil es 1996 von der Weinbruderschaft Rheinhessens ausgezeichnet wurde.

Neben dem Eingang prangt die Plakette, die »beweist, dass es sich um ein prämiertes Weinbergshäuschen handelt.« Ob es irgendwo auf der Welt noch weitere ausgezeichnete Häuschen gibt oder welche Voraussetzungen ein Heisje erfüllen muss, um in den erlesenen Kreis prämierter Häuschen aufgenommen zu werden, ist nirgends vermerkt.

Ich muss in jedes Einzelne der rund ein Dutzend Wingertsheisjer heineinschauen. Mit eingezogenem Kopf trete ich durch die niedrigen Tür. Sofort lässt der Wind nach, und es wird wärmer. Drinnen fühle ich mich wie in einem leeren Weinkeller: Ziegelsteine und brauner Putz, der Boden aus Lehm. Ein wenig Staub rieselt von der Decke, auf der sich ein paar Marienkäfer eineinanderkuscheln, um den Winter zu überstehen.

Ich beschließe, möglichst im Spätherbst noch einmal wiederzukommen. Wenn sich die Blätter der Weinstöcke rot und gelb färben und die Abendsonne die Heisjer orange leuchten lässt. Wenn noch ein paar Marienkäfer fliegen und Mäuschen zwischen den Backsteinen hin- und herflitzen. Ich werde Freunde mitbringen und ein paar Flaschen rheinhessischen Wein einpacken. Wir werden auf den Wiesen picknicken und an jedem der Wingertsheisjer anstoßen und ein Glas trinken. Am Ende torkeln wir müde den Weinberg hinunter ins Dorf. Vielleicht singen wir ein paar Lieder. Dann brauchen wir für neun Kilometer vier Stunden. Mindestens.

Westhofener Wingertsheisjerweg

Land: Deutschland (Rheinland-Pfalz)

Anreise: Westhofen ist von Worms aus mit dem Bus ereichbar. Am Startpunkt findet ihr außerdem einen Wanderparkplatz, falls ihr mit dem Auto anreist.

Gehzeit: rund zwei Stunden für knapp neun Kilometer (29. Dezember 2020)

Herausforderungen: Der Wingertsheisjerweg hat weder große Steigungen noch schwierige Passagen. Er verläuft auf den Wirtschaftswegen der Weinberge und ist gut begehbar. Die Bschilderung ist an einigen Stellen nicht ganz eindeutig. Wer kein Häuschen verpassen will, sollte sich den Track zur Sicherheit auf dein Handy laden. Verlaufen kann man sich aber nicht. Westhofen ist vom Weg aus fast immer zu sehen. Allerdings ist die Autobahn in der Nähe auch fast immer zu hören.

Höhepunkte: die Wingertsheisjer samt Infoschildern, Wintersonne, Juliusturm (ähnlich klein wie die Weinbergshäuschen), Ausblick vom Westhofener Kreuz

4 Kommentare Gib deinen ab

  1. David sagt:

    Toll, bin dem Link zu outdooractive gefolgt. Die Fotos zeigen ja richtige kleine Festungen mit dicken Mauern. Bollwerke, die vor jedem Wetter schützen.

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    1. Jana sagt:

      Ja, es sind witzige Häuslein, die alle etwas anders aussehen. Ist sicher auch für Kinder spannend.

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  2. Michael F. Jung sagt:

    Ja, sie haben absolut recht, normalen ist der Weg ohne die Gemeindeschleife in ca. 2 – 2,5 h zu wandern. Nehmen sie sich aber eine Flasche Wein, etwas zum Essen mehrere Wanderer mit Kindern, setzen sie sich auf die Bänke und halten inne. Gehen sie dann noch die Gemeindeschleife und kneippen. Ja dann, dann benötigen sie schon bis 4 h. Im Winter das ganze dann mit Glühwein!!!
    Wenn sie dann noch eine Führung geniessen, dann sowieso.
    Für die Kinder gibt es die „Wingertswurm Rally“

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    1. Jana sagt:

      Glühwein wäre natürlich auch eine prima Idee gewesen!

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