Auf dem europäischen Fernwanderweg von Obernburg-Elsenfeld bis zum Kloster Bronnbach – Tierische Begegnungen, Burgen und Fachwerk
Ich hätte das Licht nicht anknipsen sollen. Natürlich weiß ich, dass sie da sind, unter mir und um mich herum. Am Abend kamen die fliegenden Verwandten: die Maikäfer, die wie geflügelte Schwergewichtsboxer durch die Dämmerung gesurrt sind. Dann die Stechmücken. Ich habe mich vor ihnen im Schlafsack versteckt. Ameisen hatte ich gesehen und Raupen, die sich an unsichtbaren Schnüren ins Laub hinab geseilt haben.
Jetzt in der Nacht brauche ich mein Handy. Es raschelt zu viel. Mein Hirn verlangt nach Gegengeräuschen, nach Ablenkung. Wo sind die Kopfhörer? Es hat einen Grund, dass Menschen in Häuser gezogen sind. Es hat einen Grund, dass wir nicht mehr in Wäldern schlafen. Es hat einen Grund, dass Insekten mit ihren viel zu vielen Beinen keine Lobby haben.
Weiße Achtbeiner aus der Unterwelt
Ich taste nach der Stirnlampe. Als ich sie einschalte, erscheint eine weißbeinige Spinne die mich an einen zum Leben erwachten Blauschimmelkäse erinnert. Nur wenige Zentimeter von meinem Kopf entfernt tastet sie sich durch die Dunkelheit. Neben ihr stakst ein Käfer – oder ist es eine Assel? – auf dem Rucksackgebirge. Ich finde das Handy und schalte die Lampe schnell wieder aus. Ich will nicht sehen, welches Kleingetier in der Nacht aus seinen Löchern gekrochen ist.
Damit ich schlafen kann, stöpsele ich mir einen Podcast ins Ohr. Der hält die Waldgeräusche ab. Wenn ich erst einmal schlafe, kann der lebendige Schimmelkäse machen, was er will. Ich weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass die eigentlichen Gefahren an unserem Schlafplatz in der Nacht unsichtbar sind.
Mein Freund und ich liegen irgendwo zwischen Erlenbach am Main und Großheubach auf einer alten Weinterrasse. Die Mäuerchen stehen noch. Buchen und Gebüsch haben die Reben ersetzt. Wir sind ein weiteres Stück auf dem E8 unterwegs und haben uns vorgenommen ab und zu zu biwakieren, also ohne Zelt draußen zu schlafen – nur mit Biwaksack, Schlafsack und Isomatte.
Der E8 ist unser persönliches Mammutprojekt. Der europäische Fernwanderweg verläuft von Irland bis zum Schwarzen Meer – zumindest soll er das tun, wenn er irgendwann einmal fertiggestellt ist. Wir haben mittlerweile das Teilstück von Monsheim bei Obernburg-Elsenfeld geschafft, den Rhein überschritten und den Odenwald komplett durchquert. In diesem Kurzurlaub wollen wir uns auf bayrisches Terrain wagen.
Viel Zivilisation und jede Menge Geschichte
Das E8-Teilstück zwischen Obernburg-Elsenfeld und dem Kloster Bronnbach ist für unser Biwakierprojekt denkbar ungeeignet – zu viel Ziviliation, zu viele Spaziergänger, zu wenig Verstecke für zwei ausgewachsene Menschlein. Bei den Schlafplätzen können wir nicht wählerisch sein.
Egal … wir lassen es drauf ankommen. Die erste Nacht verbringen wir in Schieflage auf dem zugewachsenen Weinberg im trockenen Laub der vergangenen Jahre. Unter uns fließt der Main. Über uns der Sommerhimmel. Um uns die Blauschimmelspinnen. Tagsüber folgen wir am Rande des Spessarts eine Weile dem Mainwanderweg. Kurvenreich schmiegt sich der Fluss an die Hänge, dazwischen Fachwerk, Burgen, Campingplätze und ein wenig Industrie am Rande der Ortschaften.
Der E8 ist zwischen Oberndorf-Elsenfeld und dem Kloster Bronnbach so, wie man sich einen Fernwanderweg wünscht: abwechslungsreich, gut ausgeschildert, mit Aussichtspunkten gespickt. Nur ein wenig einsamer könnte es dort sein. Schon am frühen Morgen führen die ersten Hundegassigänger ihre felligen Freunde am Wanderweg unterhalb unseres Schlafplatzes entlang. An einem Aussichtspunkt treffen sich Jugendliche und bauen eine Shisha auf. In den Fachwerkstädtchen sammeln sich Tagestouristen zum gemeinsamen Wohlfühlprogramm: ein Stück Kuchen, vielleicht eine Bootsfahrt und ein Spaziergang zur Burg, abends noch in den Biergarten.
Die dichte Besiedlung am Main hat aber auch ihr Gutes: Wer nicht mit den Blauschimmelspinnen kuscheln will, schlüpft in einer der Pensionen, Hotels oder Gästehäuser am Weg unter. Im Tal surren Busse und Bahnen, am Kloster Engelberg gibt es kühles Bier und zünftige Mahlzeiten. Der nächste Supermarkt ist nie weit weg. Die Gegend überschüttet uns mit Geschichte als wäre sie ein leicht ergrauter Lateinlehrer, den ein paar alte Steine in orgiastische Entzückung versetzen.
Wir laufen ein Stück auf dem Fränkischen Marienweg, auf dem sich ein Kreuzweg an den nächsten reiht. In einer Kapelle hängt an den Wänden ein Panini-Sammelalbum aus Kruzifixen und Marienbildnissen: Tausche Maria mit Kind gegen betende Hände oder Porträtansicht der Mutter Gottes. Dem traurigen Blick und dem gesenkten Haupt von Jesus am Kreuz ist nicht zu entkommen. Beim Kloster Engelberg darf sich der reuige Sünder selbst ein wenig kasteien und sich die längste steinerne Außentreppe Bayerns hinaufschleppen. Es sind immerhin mehr als 600 Stufen, die ich mich emporschnaufe. Ich will aber nicht meckern, Jesus hatte es schwerer.
Dann ist da wieder kühler Wald, ein Rastplatz unter Bäumen, Margeriten und Mohn auf Blumenwiesen. Wir folgen dem Fränkischen Rotweinwanderweg. Eisdielen und Dönerbuden drücken sich zwischen und in die alten Fachwerkhäuser, ein paar Ausflugsschiffe schunkeln auf dem Main, kleine grüne Raupen krabbeln auf Holzbänken, Blindschleichen liegen auf dem Weg, zwei ineinander verwrungene Schnecken tauschen ihren Schleim aus – ich hoffe, dass sie nach dem Liebesspiel wieder auseinanderfinden.
In der zweiten Nacht, die wir im Biwak verbringen, zucken Fledermäuse durch den blauschwarzen Himmel. Wir liegen auf einer frisch gemähten Wiese – wieder auf einem alten Weinberg. Auf der gegenüberliegenden Seite des Mains ist die Sonne in geschmolzenem Orange untergegangen. Mir steigt der Duft des trocknenden Grases in die Nase wie ein Tee aus frischen Kräutern. Am Morgen wecken uns die Vögel. Die Wiese ist feucht. Wir frühstücken einige Kilometer weiter auf einer Burgruine.
Nach fünf Tagen und rund 75 Kilometern erreichen wir gegen Mittag das Kloster Bronnbach. Wir besichtigen die alten Gemäuer und beglückwünschen uns zu der gelungenen Tour auf dem E8. Was wir zu diesem Zeitpunkt nicht wissen: Wir haben blinde Passagiere im Gepäck. Und es ist nicht die Blauschimmelspinne.
Ungebetene Mitbringsel
Zu Hause packen wir unsere Rucksäcke aus, wollen vor allem die Schlafsäcke auslüften. Wir duschen, und mein Freund zieht ein frisches T-Shirt an. Und da sind sie deutlich zu sehen. Winzige schwarze Punkte krabbeln auf dem weißen Stoff herum.
Es sind Zecken, genauer gesagt Nymphen – also sozusagen jugendliche Zecken. Dutzende von ihnen kriechen auf der T-Shirt meines Freundes herum.
Kurz denke ich daran, unsere gesamte Ausrüstung auf einem Scheiterhaufen zu verbrennen. Bestimmt haben Zecken irgendeinen ökologischen Nutzen. In meinem Wohnzimmer haben sie aber nichts verloren. In den Nächten im Weinberg hatten sie sich an ihre wehrlosen Opfer herangepirscht.
Wir schütteln alle Kleidungsstücke aus, die wir dabei hatten. Klopfen auf den Rucksäcken herum, als hätten sie eine Trachtprügel verdient. Wir wedeln mit der Isomatte am Fenster und verbannen die Biwacksäcke auf die Wäscheleine in der Hoffnung, dass die Zecken einfach rauspurzeln. Einige der Jungzecken krabbeln mittlerweile auf den weißen Badezimmerfliesen. Ich bewaffne mich mit Klopapier und wische sie vom Boden. Dann spüle ich sie das Klo hinunter.
Auf der Tour hatten sich schon einige Zecken in unser Fleisch gebohrt. Jetzt ziehen wir uns noch einmal aus und untersuchen uns akribisch auf Zeckenbefall. Die Zecken hatten es sich vor allem im Rucksack gemütlich gemacht – ich befürchte, dass noch heute einige tote Exemplare in den dunklen Ritzen zwischen Reißverschluss und Außenhaut hängen.
Die Blauschimmelspinne sehe ich jetzt mit anderen Augen. Ich werde sie das nächste Mal freudig begrüßen, ihr eine angenehme Nacht wünschen und ihr gut zureden. Bevor ich mich schlafen lege, werde ich sie mit Käsekrümeln anlocken. Vielleicht frisst sie Zecken.
Deutschland: E8-Etappe von Obernburg-Elsenfeld nach Bronnbach
Land: Deutschland (Bayern und Baden-Württemberg)
Anreise: Der Startpunkt Obernburg-Elsenfeld hat einen Bahnanschluss. Gleiches gilt für das Ende der Tour, das Kloster Bronnbach.
Gehzeit: rund 5,5 Tage für 75 Kilometer (31. Mai bis 5. Juni 2021)
Herausforderungen: Der E8 ist auf diesem Teilstück nicht besonders schwierig. Es geht meist auf Forst-, Wald- und Wirtschaftswegen entlang. Die schwierigste Sache dürfte sein, überhaupt voranzukommen, denn es gibt direkt am Weg viele tolle Rastplätz nette kleine Städte wie Miltenberg, Burgen und Klöster zu entdecken.
Höhepunkte: Blick auf den Main, Kloster Engelberg, Kreuzwege, Blindschleiche, Maikäfer, Miltenberg, Kloster Bronnbach, Wertheim
Der Main liegt dem Wanderer am E8 zu Füßen. Blick auf Miltenberg An einer Kapelle am E8 hängen jede Menge Marienbilder Daumen hoch für das Städtchen Wertheim. Schneckenliebe Ein imposanter Bau: das Kloster Bronnbach.
Diese Wandergeschichte zum E8 hat dir gefallen? Es gibt noch mehr davon, etwa zu einer Biwaktour im Odenwald und einem schön hässlichen Streckenabschnitt.
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