Frühlingsspaziergang auf der Maulbeerinsel: Stadtwanderung im Naturschutzgebiet
Wie jeder Manager und jede Managerin weiß, ist nicht jedes Projekt von Erfolg gekrönt. Während Führungskräfte heutzutage hoffentlich ein Team haben, das sie von allzu hanebüchenen Ideen abbringt, hatte Kurfürst Karl-Ludwig wohl niemanden, der sich getraut hat Tacheles zu reden. Er wollte Seidenraupen züchten – auf einer Insel im Mannheimer Neckar. Dazu pflanzte er im 17. Jahrhundert Maulbeerbäume, die die Raupen sich schmecken lassen sollten.
Es ist der 1. Mai 2023, als mein Freund und ich uns auf die Suche nach diesen Maulbeerbäumen machen. Insgeheim hoffe ich darauf, einer Nachfahrin eben jener kurfürstlichen Seidenraupen zu begegnen, auch wenn ich weiß, dass das ziemlich unwahrscheinlich ist.
Am Altneckar unterwegs
Die Maulbeerinsel in Mannheim liegt zwischen dem Neckarkanal und dem Altneckar. Der westliche Teil der Insel steht unter Naturschutz. Hier müssen sie irgendwo sein, die hoheitlichen Bäume.
Es ist still auf den Wegen. Nur ab und zu höre ich weit entfernt die Stadt atmen: die Straßenbahnen und Autos, die Flugzeuge und die Lautsprecher, die von Picknickdecken oder aus Fahrradkörben pulsieren. Auf einer Landspitze trocknen die Kormorane ihre Flügel, Ruderer ziehen in gleichmäßigen Zügen an uns vorbei, und an einer Hafenmauer träumen Frachtschiffe mit zerkratzter Haut und Wasser im Bauch vom Meer.
Von den Maulbeerbäumen keine Spur, aber mein Freund und ich machen eine andere Entdeckung, die uns stutzen lässt: Schnecken, die auf Bäume klettern. Oder sollte man besser sagen, die auf Bäume »kriechen«?
Es ist nicht nur eine Schnecke, die sich den Stamm hinaufschiebt. Wir sehen Dutzende: Einige von ihnen auf glatter Rinde, andere auf Borke schrundig wie tiefe Narben.
Wir rätseln: Was wollen die Schnecken dort oben? Ein paar haben es schon bis in die höheren Stockwerke geschafft. «
»Vielleicht macht sie das zum Spaß? «, mutmaßt mein Freund.
»Oder sie wollen Selbstmord begehen«, murmele ich.
Wir starren auf eine Schnecke, die sich etwa auf Augenhöhe befindet und diskutieren, was das Tier antreibt, senkrecht nach oben zu klettern – ohne Seil und Klettergurt.
»Sie haben einen Grund«, sage ich. »Bestimmt sind sie schlau.
»Sie könnten sich vor Überschwemmung schützen«, meint mein Freund.
Mich überzeugt das nicht. Der Neckar macht keine Anstalten über seine Ufer zu treten.
Ein Mannheimer Ungetüm: das Collini-Center
Bevor wir das Schneckenrätsel lösen können, erreichen wir den Kopf der Insel. Dort picknickt eine Gruppe junger Leute. Vor mir liegt das Collini-Center, ein Klotz aus den 1970er Jahren, Baustil Brutalismus. Der Mannheimer Fernsehturm piekst den Himmel, und am Horizont verschwimmen die Schornsteine und Leitungen eines der größten Chemieunternehmens der Welt. Es ist typisch für Mannheim, dass die Industrie nie weit weg ist.
Auf der Inselseite, die direkt gegenüber dem Luisenpark liegt, flanieren wir zurück. Auf alten Bäumen nisten Störche; ein Eichhörnchen klettert einen Baum hoch (vielleicht ahmen die Schnecken die Eichhörnchen nach?) und aus den Hecken, fast so undurchsichtig wie Zwieback, fiept, zwitschert, pfeift, krakeelt und surrt es. Wir beoachten, wie sich eine Hornisse die Flügel putzt – und dann stoßen wir auf einen Baum, der verdächtig anders aussieht.
Urväterlicher Maulbeerbäume
Blätter hat der Baum erst wenige, der Hauptstamm ist faulig, schwere Äste liegen am Boden, gleichzeitig greifen junge Zweige ins benachbarte Grün. Ich bin sicher: Das ist einer der berühmten Maulbeerbäume. Wie der Kurfürst höchstpersönlich thront er über seinem Inselreich. An einem seiner Nachbarn sind schon Beeren zu sehen. Sie sehen aus wie winzige Reben mit schwarzen Punkten, die uns anstarren wie einäuige Raupen.
Wir wandern zurück zur Straßenbahnhaltestelle. Über uns schwebt die Seilbahn der Bundesgartenschau. Während wir auf die Bahn warten, googeln wir, warum Schnecken auf Bäume klettern. Einige Internetseiten behaupten, dass sie Flechten und Algen von der Rinde knabbern würden und hoch oben vor Fressfeinden sicherer seien. Eine andere Theorie besagt, dass die Schnecken dort Trockenzeiten abwarten.
Sehr überzeugend klingen die Erklärungen alle nicht. Vielleicht wollen die Kriecher einfach nur die Aussicht genießen?
Im Fenster sehe ich die Maulbeerinsel vorüberziehen. Ein Seidenraupenparadies ist daraus nicht geworden, aber ein Klettergarten für Schnecken ist ja auch nicht schlecht.
Mannheim: Rundweg auf der Maulbeerinsel
Land: Deutschland (Baden-Württemberg)
Gehzeit: Von der Straßenbahnhaltestelle Hohlbeinstraße (Linie 5) bis zur westlichen Spitze der Insel sind es knapp vier Kilometer, die man in einer Stunde schafft. Man kann eine Wanderung über die Maulbeerinsel aber beliebig verlängern, indem man den östlichen Teil erkundet. Hier kannst du dir den Track herunterladen:
Herausforderungen: Keine, die Maulbeerinsel ist flach. Außer ein paar Zecken, die bestimmt im hohen Gras lauern, habt ihr dort nichts zu befürchten.
Höhepunkte: Maulbeerbäume, Inselspitze, Störche, schmale Pfade, Hornisse, Eichhörnchen, Schnecken, die auf Bäume kriechen
Falls du Lust auf eine geführte Wanderung durch Mannheim hast: Am 28. Oktober 2023 biete ich eine Urban-Hiking-Tour an. Melde dich gerne jederzeit an.
Du willst weitere Wanderstrecken aus Mannheim kennenlernen? Dann schau hier mal im Dossenwald vorbei, mach mit mir eine Radiuswanderung oder komm mit auf die Reissinsel.