Vogesen: Käse-Koma auf dem GR5

Fernwandern im Elsass – ein kulinarisches Spektakel und eine Lektion in französisch-deutscher Geschichte

Manche Wörter sind putzig wie Dackelwelpen. So gibt es in Neuseeland einen Ort, der »Glenorchy« heißt. Wenn man das Wort deutsch ausspricht, kommt »Klenorchie« dabei heraus. Und wer sind die »Klenorchies«? – Natürlich ein Volk verhutzelter Wichtel, das in Baumlöchern wohnt, Mäuse am Spieß grillt und auf Fledermäusen reist. Ist ja hoffentlich jedem klar.

Auf dem GR5 in den Vogesen habe ich keinen Klenorchie getroffen, dafür aber ein neues Wort gelernt. Es ist so unwahrscheinlich wie die Klenorchies, aber im Elsass sehr verbreitet. Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein Schummelversuch beim Scrabble: Buchstabensalat mit zu vielen Vokalen. Darf ich vorstellen? Roïgabrageldi!

Wer im Elsass wandert, wird den Roïgabrageldi sicher über den Weg laufen. Mein Freund und ich begegnen ihnen in der Ferme Auberge du Hahnenbrunnen.

In der Ferme Auberge

Eine Ferme Auberge ist ein Bergbauerngasthof: Holz, karierte Tischdecken, in der Luft der Duft von geschmolzenem Bergkäse und gebratenen Zwiebeln. Auf den Tischen der Rotwein, schwer wie die Sonne. Gipfel mit fettem Gras, getrocknete Kuhfladen, blühender Thymian auf den Wiesen. Die Welt in weichen Falten unter uns, überbacken mit Himmelblau.

Die Fermes Auberges gehören zum Besten, was der GR5 in den Vogesen zu bieten hat. Kalorien in Form von fettreichem Käse, großzügigen Fleischportionen und Kartoffeln zum Sattwerden. Als Fernwanderer, der sich von Tütensuppe, Nudeln, Haferflocken und Nüssen ernährt, ist eine Ferme Auberge direkt am Wanderweg gelegen ein Geschenk des Himmels. Die Preise sind günstig, Wanderer sind willkommen. Dank der Herbergen spart man sich auf einer Mehrtagestour jede Menge Gepäck, denn Supermärkte oder dergleichen gibt es auf dem Vogesen-Abschnitt des GR5 nicht beziehungsweise nur alle paar Tage. Wer in den Berggasthöfen einkehr, kann ein paar Kilo Trockenfutter zu Hause lassen.

Als wir an der Ferme Auberge du Hahnenbrunnen ankommen, sind wir bereits den vierten Tag auf dem GR5 unterwegs. Wir haben seit dem Aufbruch am Morgen rund 700 Höhenmeter hinter uns. Die Sonne pumpt unaufhörlich Hitze in unsere Gliedmaßen. Meinen Regen- habe ich zum Sonnenschirm umfunktioniert. Wo immer es möglich ist, tauche ich meinen Schlauchschal ins Wasser und ziehe mir das kühlende Stück Stoff über den Kopf. Die Ferme Auberge du Hahnenbrunnen erscheint mir wie das gelobte Land. Wir brauchen Wasser, und vor allem müssen wir raus aus der Sonne.

Obwohl die Aussicht an den Tischen draußen grandios ist, setzen wir uns nach drinnen, sobald ein Tisch frei wird. Noch ein paar Sonnenstrahlen mehr, und mein Hirn zersetzt sich. Mein Kopf ist rot. Überall klebt Sonnenmilch.

Auf den höchsten Höhen im Mittelgebirge

Der GR5-Abschnitt, den wir laufen hat es in sich. Auf unserer Strecke liegen einige der höchsten Berge der Vogesen, etwa der Große Belchen (Grand Ballon) mit 1.424 Metern oder der Hohneck mit 1.363 Metern. Allesamt keine Riesen, aber es kommt einiges an Höhenmetern zusammen.

Der Fernwanderweg GR5 startet in den Niederlanden und endet in Nizza. Unser Urlaub reicht nur für einen kleinen Abschnitt zwischen Col du Calvaire und Saint Hippolyte. Er führt uns durch die Vogesen bis hinein in das Gebiet um Belfort mit seinen vielen Seen, Teichen und Kanälen. Am Ende unserer Wanderung lässt uns der GR5 erahnen, welche grandiosen Etappen im Jura-Gebirge noch folgen werden.

Überall finden sich Spuren, die an die bewegte Vergangenheit des Elsass erinnern. Der GR5 liegt wie ein Bücherbändchen zwischen den Seiten deutsch-französischer Geschichte. Die Ortsnamen klingen eigentümlich vertraut: Storkenkopf, Soultzeren, Munster und Col de la Schlucht. Man spürt, dass das Elsass eine Region dazwischen ist. Zwischen Deutschland und Frankreich war das Elsass immer wieder Spielball machtpolitischer Interessen. Die der Region eigene Kultur und Sprache hatte es schwer. Wie stark an an diesem Streifen Erde gezerrt wurde, wird am Hartmannswillerkopf besonders deutlich,

Durch die Überreste eines Schlachtfelds

Der Berg liegt – aus heutiger Perspektive – mitten im Nirgendwo direkt am GR5 und wurde doch im Ersten Weltkrieg hart umkämpft. Rund 30.000 deutsche und franzözische Soldaten ließen dort ihr Leben. Die Kreuze am Denkmal des Berges, die wie eine Plantage der Toten aussehen, erzählen von einer sinnlosen Schlacht. Weder Deutsche noch Franzosen kamen in dem über Jahre dauernden Stellungskrieg voran. Was blieb, ist ein von Schützengräben, Granattrichtern und Stollen vernarbter Berg.

Der Krieg hat vielerorts am GR5 Spuren hinterlassen. Am Col de la Schlucht finden sich Überreste des einst höchsten Bahnhofs Deutschland. Die Bahnstrecke verlief von 1907 bis 1914 von Munster auf den Pass – dann kam der Krieg, und es war aus mit der wunderschönen Bahnstrecke. Auf dem Grand Ballon erinnert ein Denkmal an die Gebirgsjäger, dahinter liegt eine Radarstation, die wirkt, als hätte jemand eine Kulisse für einen Alien-Film zurückgelassen. Hinter Valdoie passieren wir das Fort du Salbert, eine riesige Verteidigungsanlage aus dem 19. Jahrhundert

Fernwandererin unterwegs

Es sind die Begegnungen auf dem Wanderweg, die hoffentlich ihren Teil dazu beitragen, dass nicht noch mehr Bunker, Forts und Schützengräben gebaut werden. Die großen länderübergreifenden europäischen Fernwanderwege lassen sich als ein Stück Friedensarbeit verstehen.

Auf dem GR5 treffen wir beispielsweise eine junge Frau aus Belgien, die sich vorgenommen hat, den ganzen Weg zu laufen – bis ans Mittelmeer. Sie heißt Kiara und ist leicht als »Thruhikerin« zu erkennen: ein großer, aber kompakt und vernünftig gepackter Rucksack, keine allzu schweren Wanderschuhe, eine gesunde Bräune im Gesicht.

Kiara hat eine kleine Einwegkamera dabei. Jeden Tag schießt sie damit ein einziges Foto. An dem Tag, an dem wir sie kennenlernen, sind mein Freund und ich ihr Fotomotiv. Wir machen gemeinsam Mittagspause. Es beginnt zu regnen. Als wir weiterlaufen, zücken mein Freund und ich unsere Regenschirme. Das findet Kiara trollig, aber wir schwören auf den Regenschirm als unterschätztes Wanderutensil. Deshalb dürfen wir auf ihr Foto, samt unserer Schirme und einem tiefhängenden tränenden Himmel.

Am Roïgabrageldi-Tag sehne ich Regen und Kühle herbei. Die Vogesen sind hoch genug, dass die Temperaturschwankungen erheblich sind. Von knapp dreißig bis unter zehn Grad ist binnen weniger Tage alles dabei.

Immerhin sitzen wir in der Ferme Auberge im Schatten. Wir studieren die Speisekarte und lesen zum ersten Mal dieses unglaubliche Wort mit den vielen Vokalen. Und dann treffen wir eine Entscheidung, die sich im Nachhinein als wenig intelligent erweist. Es gibt Dinge, die sind dumm, aber man kann nicht anders.

Mein Freund bestellt mit Käse überbackene Kartoffeln, ich wähle ein Käseomelette. Danach lasse ich mir ein Stück Blaubeerkuchen bringen. Aufgebläht von der Hitze, mit schweren Beinen, einem Klumpen Käse im Bauch, habe ich das Gefühl, mich nie wieder bewegen zu können. Mein Körper hat sich in eine Art Germknödel verwandelt: eine träge, weiche Masse. Meine Arme sind mir lästig. Am liebsten würde ich mich auf die Bank neben unsere Rucksäcke legen. Meine Gliedmaßen brauchen zu viel Platz. Es ist, als würde ich mich immer weiter ausdehnen.

Im Germknödel-Zustand

»Mir ist schummrig«, sage ich.

Meinem Freund geht es ähnlich. Wir beschließen sitzen zu bleiben. Die Ferme Auberge leert sich. Nach den Mittags- kommen die Nachmittagsgäste, und bald sind wir im Schankraum die einzigen. Ich kann mir nicht vorstellen, aufzustehen und weiterzulaufen.

»Blutdruck«, meint mein Freund. »Wahrscheinlich ist unser Blutdruck im Keller. Dreißig Grad, Anstrengung und viel Käse vertragen sich nicht.«

Ich habe Sorge, dass der Germknödel-Zustand anhält und wir an diesem Tag überhaupt nicht mehr weiterkommen. Wir entscheiden uns für eine experimentelle Therapie: Espresso für meinen Freund und Cola für mich.

Wir winken den Kellner herbei. An meiner Cola-Flasche kondensiert das Wasser. Ich trinke in kleinen Schlucken. Nach etwa einer halben Stunde schrumpft mein Körper wieder zu seiner Normalgröße zusammen. Mein Herz schlägt ruhiger. Wir zahlen und schultern die Rucksäcke. Auf uns wartet die nächste Etappe.

Ein paar Tage später lernen wir: Roïgabrageldi ist ein Kartoffelgericht, eine Mischung zwischen Bratkartoffeln und Rösti. Es gibt zahlreiche Varianten dieser elsässischen Spezialität. Dazu isst man grünen Salat.

Sollte ich jemals einen Glenorchie treffen, lade ich ihn auf eine Portion Roïgabrageldi ein.

Vogesen: Auf dem GR5 von Col du Calvaire nach Saint Hippolyte

Land: Frankreich

Anreise: Ihr könnt mit dem Auto bis zu einem der zahlreichen Pässe an der sogenannten Route des Crêtes fahren und dort parken. Bei der Routes des Crêtes handelt es sich um die Vogesen-Kammstraße. Ihr erreicht den GR5 allerdings auch mit dem Bus – zumindest in den Sommermonaten. Von beispielsweise Colmar oder Mulhouse aus gibt es Zubringerbusse, die mehrmals am Tag unterwegs sind. Prüft unbedingt vorher die Fahrpläne! Mit diesen Bussen könnt ihr euch auch zum nächsten Bahnhof bringen lassen und von dort dann per Bahn in größere Ortschaften fahren, etwa um einzukaufen oder ein paar Tage schlechtes Wetter auszusitzen.

Gehzeit: ca. 11 Tage für rund 180 Kilometer (19. August bis 4. September; wir haben mehrere Pausentage gemacht)

Herausforderungen: Der Streckenabschnitt zwischen Col du Calvaire und Saint Hipplolyte ist fast durchgängig gut ausgeschildert (rotes Rechteck bzw. rot-weißer Balken).

Während die Orientierung auf dem Vogesenabschnitt des GR5 also kein großes Problem ist, sieht es in Sachen Versorgungslage und Übernachtungsmöglichkeiten anders aus. An der Strecke selbst gibt es außerhalb der Ortschaften keine Einkaufsmöglichkeiten. Übernachten kann man in den Fermes Auberges oder in Hotels. Besonders zahlreich sind die Übernachtungsmöglichkeiten allerdings nicht. Wir haben meistens draußen mit Tarp übernachtet – irgendein Plätzchen für zwei Personen haben wir immer gefunden.

Ihr solltet euch auch darüber Gedanken machen, wo ihr eure Wasservorräte auffüllt. In den Fermes Auberges erhaltet ihr – so unsere Erfahrung – immer Leitungswasser. Außerdem gibt es einige Quellen und Brunnen, die aber nicht verlässlich Wasser führen. Ihr kommt jeden Tag mindestens einmal an einem Berggasthof oder dergleichen vorbei, aber die haben nicht immer geöffnet.

Die Strecke selbst ist anspruchsvoll, weil es fast jeden Tag mehrere Hundert Höhenmeter hinauf und auch wieder hinunter geht. Ihr lauft sehr weite Strecken über schmale Pfade, die zum Teil steil und unwegsam sind. Wirklich ausgesetzte Stellen gibt es allerdings nicht. Das Wetter kann in den Vogesen schnell umschwingen. Einige Abschnitte sind sehr steinig und bei Regen entsprechend rutschig. Bei anhaltend schlechtem Wetter würde ich empfehlen, eine Pause einzulegen.

Höhepunkte: Col de la Schlucht, Sicht auf den Lac du Forlet, Steilhänge und Felsen, Blau- und Brombeeren am Wegesrand, Mausfütterung am Lac des Schiessrothried, Lac de Fischboedle, Sternenhimmel in der Nacht, Blick vom Grand Ballon, Kathedrale in Thann, moosbewachsene Steine, die Fermes Auberges, der französische Käse

Lust auf weitere Wandergeschichten? Dann empfehle ich dir mein Buch »Bibbulmun – 1.000 Kilometer durch Australien«.

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