Mehrtagestour am Rhein – Mikroabenteuer mit Biwaksack und Tarp
Die Welt ist wie ein Luftballon voller Konfetti. Du musst dich nur trauen hineinzupiksen, und schon fallen mehr Abenteuer aus dem Ballon, als du gucken kannst.
Unser Konfetti war eine Winterwanderung im Dezember. Sie gehört zu den abenteuerlichsten Touren, die ich bis dato unternommen habe – und das, obwohl sie mich weder weit weg noch in zivilisationsfremde Gefilde geführt hat.
Belinda und ich wollten vier Tage vor Weihnachten losziehen. Ich hatte zwei Schlafsäcke im Gepäck und eine Wärmflasche. Das erste Mal trug ich auf einer mehrtägigen Wanderung eine Skihose.
Belinda hatte die Route geplant. Die Ausarbeitung einer Tour war Teil unserer Ausbildung zum Wander- und Naturreiseleiter bei Wildniswandern. Ich überließ Belinda Streckenführung und Navigation und konzentrierte mich darauf, ein Kälteschutzkonzept zu entwickeln, das im Wesentlichen aus mehreren Lagen Kleidung bestand.
Mir machten weniger die Nächte als vielmehr die Tage Sorgen. Wir würden mit schwerem Gepäck nicht unendlich lange unterwegs sein können. Es wurde früh dunkel. Die Sonne würde um halb fünf untergehen. Ich fragte mich, wie wir die langen Abende überstehen sollten – ohne Zelt, nur mit Tarp und Biwacksack. Zeit wird zum Folterknecht, wenn man friert.
Ich war froh, dass wir dieses Abenteuer zu zweit starten würden. Zusammen würden wir es schon schaffen. Belinda hatte mir ein paar Tage vorher eine Packliste geschickt; es konnte losgehen.
Tag eins der Winterwanderung
Der Morgen des ersten Tages glänzt wie poliertes Metall. Wir sind am Bahnhof in Koblenz verabredet. Belinda wartet schon in der Ankunftshalle, ihr Rucksack mindestens ebenso groß wie meiner. Ich drücke die Gedanken weg, was alles schiefgehen könnte. Vielleicht würden wir kein Feuer anbekommen. Vielleicht wären zwei Schlafsäcke doch zu wenig.
Die meisten Menschen, denen ich von der Tour erzählt hatte, bemitleideten uns. Draußen schlafen? Im Winter? Warum? Eine gute Antwort darauf hatte ich nicht, wohl aber das Gefühl, dass etwas Verheißungsvolles in der Luft lag. Etwas, das ich noch nie getan hatte. Ein Outdoor-Experiment. In mir baute sich eine angenehme Spannung auf. Es war mir egal, dass viele unsere Winterwanderaktion für ein kleines bisschen verrückt hielten.
Wir steigen in den Bus, der unterhalb der Burg Stolzenfels hält, die so weit und steil über uns emporragt, dass sie von unten nicht zu sehen ist. Wir müssen erst einmal nach oben. Mein Rucksack wiegt elf oder zwölf Kilo, darunter drei Liter Wasser. Belinda hatte ausgerechnet, dass wir so viel mindestens brauchen würden, bis wir wieder dazu kommen würden, unsere Flaschen aufzufüllen.
Ich zurre noch einmal meinen Hüftgurt zurecht, schlüpfe in die Handschuhe und dann klackern meine Wanderstöcke wie ein Storch außer Takt über das Pflaster. Wir nehmen einen Zubringer zum Rheinburgenweg, dem Wanderweg, den Belinda für uns ausgesucht hat: gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar, zivilisationsnah und trotzdem wild wie ein gebändigter Luchs.
Der Rheinburgenweg ist der kleine Bruder des Rheinsteigs, der auf der rechten Rheinseite verläuft. Der Rheinburgenweg bleibt links des Flusses und bringt den Wanderer durch Orte wie Bacharach, St. Goar, Oberwesel und Boppard. Mit knapp zweihundert Kilometern reicht der Rheinburgenweg für einen zehntägigen Wanderurlaub locker aus. Höhenmeter, Burgen und Cafés an der Flusspromenade sorgen dafür, dass man nicht allzu schnell vorankommt. Wer möchte, kann sein Gepäck von Ort zu Ort transportieren lassen. Das Mittelrheintal ist ein touristisches Sammelalbum – mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt.
Die Kilos auf meinem Rücken bremsen. Meine Schritte sind klein, aber schwungvoll. Die Luft schmeckt süß wie Eiscreme. Ab und zu recken sich Hagebutten aus dem Gestrüpp wie Teenagerschmollmünde. Die Weinberge an den Hängen auf der anderen Rheinseite erinnern mich an einen getrimmten Dreitagebart.
Eine offizielle Genehmigung, draußen zu schlafen, haben wir nicht. Belinda hatte sich bemüht und mit mehreren Gemeinden und sogar mit einem Bürgermeister Kontakt. Der hatte unsere Anfrage, an der Grillhütte am Ort übernachten zu dürfen, rundheraus abgelehnt. Ohne Begründung.
In Deutschland ist es abseits von Campingplätzen fast unmöglich, legal draußen zu übernachten. Mittlerweile gibt es zwar in der Pfalz, im Schwarzwald und einigen anderen Regionen sogenannte Trekkingplätze, aber die haben im Winter geschlossen. Zelten ist grundsätzlich verboten (solange es nicht explizit erlaubt ist), Biwakieren ist eine Grauzone und wird meist geduldet, solange man nicht gerade in einem Naturschutzgebiet residiert.
Bei jeder solcher »halblegalen« Übernachtungen plagt mich die Sorge, ein Jäger, Ortsvorsteher oder gesetzestreuer Bürger könnte mich im Wald entdecken und von meinem Schlafplatz vertreiben. Bei Minusgraden und Dunkelheit kann es dann unangenehm werden, eine neue Ruhestätte zu finden.
Eine Burg im Winterschlaf
Belinda und ich passieren die Burg Stolzenfels, ein weiß getünchtes Gewimmel aus Türmchen und Erkern, mehr ein Märchenschloss als eine Trutzburg, und ein kleines bisschen eine Mogelpackung. Die Burganlage in ihrer heutigen Form ist kein mittelalterliches Gemäuer, sondern eine Kulisse rheinromantischer Liebeleien vom Anfang des 19. Jahrhunderts. Der Zauber des Mittelrheintals ist zumindest teilweise architektonischer Schwülstigkeit zu verdanken.
Besichtigen können wir die Stolzenfels an diesem Tag nicht. Die Burg ist im Dezember und Januar geschlossen. Es ist eine von rund vierzig Burgen im Mittelrheintal. Sie sind dort so zahlreich vertreten, dass wir uns einen Spaß daraus machen, von jedem Aussichtspunkt zu zählen, wie viele gerade in Sicht sind. Wie Bodybuilder mit überquellenden Muskelpaketen posieren sie an den steilen blassbraunen Hängen am Rhein.
Für die erste Nacht hat Belinda einen Wanderunderstand auserkoren. Es ist früher Nachmittag, als wir dort ankommen, aber die Sonne steht schon tief. Die Hütte schaut mit ihrer offenen Seite auf Felder und Wiesen, hinter uns liegt Wald. Ein breiter Wirschaftsweg führt aus dem Rheintal zum Unterstand hinauf. Für alle, die bergauf laufen, sitzen wir auf dem Präsentierteller. Wir beschließen, dort trotzdem die Nacht zu verbringen und machen uns auf, um Holz zu sammeln. Hinter der Hütte entdecken wir ein Schild: Treibjagd. Ein geländegängiger Wagen parkt am Waldrand. Es sind Jäger unterwegs.
Ich raffe trockenes Holz zusammen, pflücke längst verdorrte Gräser und trage Reisig zur Hütte. Unser Feuer wird schon vom Weitem zu sehen sein. Vor der Hütte schichten Belinda und ich unseren Holzvorrat auf, von klein nach groß, und richten unser Lager, als plötzlich ein Mann auftaucht.
Er marschiert mit kräftigen Schritten den Hang hinauf. Ein Hund begleitet ihn. Ein Jagdhund. Dass wir in der Hütte übernachten wollen, ist nicht mehr zu übersehen. Der Holzvorrat, ausgebreitete Isomatte, Kochgeschirr, die großen Rucksäcke. Der Hund kommt näher, und der Mann bleibt stehen.
»Wollt ihr Feuer machen?«, fragt er und zeigt auf unseren Holzstapel.
»Wenn wir dürfen«, antworte ich. Der Hund scharwenzelt um uns herum.
»Mit dem Holz werdet ihr nicht weit kommen. Es soll kalt werden heute Nacht.«
»Es wird schon gehen«, murmeln wir.
»Ich habe noch Holz da, wenn ihr welches braucht. Oder Werkzeug, zum Beispiel eine Axt.«
Wie lehnen höflich ab, schließlich wollen wir niemandem zur Last fallen. Der Mann verschwindet im Wald. Belinda und ich sehen uns an.
»Vielleicht wäre ein wenig zusätzliches Holz doch eine gute Idee?«, meint Belinda.
Sie spurtet dem Mann hinterher. Rund fünfzehn Minuten später stehen wir mit ihm auf der Veranda eines kleinen kirschroten Holzhäuschens und trinken Bier. Er heißt Wolfgang und ist nicht nur Jäger, sondern auch eine Art Outdoorcoach für Führungskräfte und Teams. Er führt uns durch sein Waldhäuschen, das er uns sogar für eine Nacht überlassen würde, aber wir suchen schließlich das Abenteuer. Wir sprechen über das Draußensein, über unsere Ausbildung und die Frage, was ein gutes Leben ausmacht. Während der Himmel sich rosa färbt, Wolfgang uns erklärt, dass die Treibjagd längst vorbei ist, vergesse ich, wie kalt meine Füße sind. Belinda und ich werden uns später einig, dass unser Wanderabenteuer kaum besser hätte beginnen können.
Dank der Scheite aus Wolfgangs Schuppen müssen wir nicht mit dem Holz geizen. Wir brauchen kaum eine Minute, und das Feuer brennt. Belinda hatte Birkenrinde eingepackt. Sie enthält ätherische Öle und eignet sich besonders gut, um ein Feuer anzuzünden.
Während der Mond über dem Tal aufgeht, bereiten wir unser Abendessen zu. Belinda schraubt ihren Kocher auf die Gaskartusche. Es zischt, und eine kleine blaue Flamme müht sich ab, einen großen Topf Wasser zu erhitzen. Irgendetwas stimmt nicht.
Belinda dreht immer wieder am Regler ihres Kochers. Das Flämmchen zittert und ist irgendwann kaum noch zu sehen. Das Wasser wird gerade noch heiß, dann gibt der Kocher auf. Meinen gedörrten Erbseneintopf köchele ich auf dem offenen Feuer. Ich trinke wenig, um nachts nicht noch einmal raus zu müssen.
Am frühen Morgen drückt sich die Kälte von unten durch meine zwei Schlafsäcke, die ich übereinander gezogen habe. Wir liegen auf dem Steinboden vor dem Unterstand. Meine Isomatte schafft es nicht mehr, den Frost abzuhalten. Trotzdem öffne ich erst die Augen, als es hell wird. Das Tal vor uns zeigt sich in erhabener Schönheit.
Am Horizont glimmt ein gelber Streifen, darunter liegt uns eine Wolkendecke zu Füßen. Das Gras glitzert. Die Hügel sind wie ein heller Ton, der freundlich über dem Fluss herumtollt. Belinda und ich ahnen, dass es ein besonderer Tag werden wird.
Wir versichern uns, dass wir beide wohlauf sind. Die erste Nacht haben wir überstanden. Nie zuvor habe ich bei so niedrigen Temperaturen draußen geschlafen.
Wir wärmen am Feuer Hände und Füße, frühstücken und packen. Das dauert. Alle paar Minuten komme ich zum Feuer zurück, meine Hände sind rot. Der Rauch macht mir nichts aus. Warme Luft ist mir in dem Moment wichtiger als frische. Als wir aufbrechen, haben wir unseren kompletten Holzvorrat aufgebraucht. Wolfgang hatte Recht. Ohne sein Zutun hätten wir spätestens am Morgen noch einmal Holz sammeln müssen.
Wir lassen die Hütte hinter uns, und ein Zaubertraumtag beginnt. Die Wetterlage ist ungewöhnlich. Aus dem Rheintal ist über Nacht feuchte Luft aufgestiegen und hat Büsche, Bäume, Blätter, Zäune und Gräser mit Eiskristallen überzogen. Nadeln aus Glas, die bei der sanftesten Berührung brechen, und Sonnenlicht aufsaugen. Eine Winterlandschaft in Weiß, ganz ohne Schnee.
Nebel über dem Rheintal
Ich streife mit meinem Wanderstock oder den Handschuhen über die Kristalle. Konfetti aus Eis. Fragile Kunstwerke gewachsen in der Nacht. Damit konnten wir nicht rechnen. Der Himmel hat uns kalte Diamanten geschenkt.
An den Aussichtspunkten liegt der Rhein immer noch unter Nebel verborgen. Mir kommt es vor, als hätte einer der romantischen Maler, die für den Mythos Mittelrhein mitverantwortlich sind, uns ein ein Diorama vorgesetzt. Sobald wir tiefer Richtung Fluss steigen, verschwinden Sonne und Eiskristalle. Erst am Nachmittag setzt sich das gute Wetter auch im Tal durch, der Nebel lichtet sich, als wir unten in Boppard am Rhein stehen. Wir müssen dort unsere Wasservorräte auffüllen, bevor wir zum Eisenbolzköpfchen aufsteigen. Die Strecke hat an diesem Tag nur rund 12,5 Kilometer. Für uns reicht das. Die Kälte macht längere Pausen unmöglich. Die knackigen Aufstiege machen müde.
Aufstieg zum Eisenbolzköpfchen
Die Hütte auf dem Eisenbolzköpfchen hat Belinda offiziell für uns gebucht. Eigentlich dürften wir dort nur grillen und nicht übernachten, aber wir beschließen, die Sache nicht zu genau zu nehmen. Als wir die Serpentinen zu dem kleinen Berg hinaufsteigen, kommen mir Zweifel, ob wir genug Holz finden werden. Die Hänge sind steil und voller Steine, die scharfkantig wie Buchseiten aus dem Berg ragen. Überall nur geduckte Eichen, wenig trockenes Holz.
Mir macht die Steigung zu schaffen. Am Berg kann ich mit Belinda nicht mithalten. Meine Nase läuft, wie immer, wenn die Temperatur unter fünfzehn Grad fällt. Ich tröste mich damit, dass ich irgendwann schon oben sein werde. Mir wird wärmer in meinen vielen Schichten Kleidung. Noch immer scheint die Sonne.
Als wir oben sind, lassen wir den Blick über den Rhein schweifen, der im Norden hinter einer Biegung verschwindet. Boppard liegt uns zu Füßen. Wir fangen sofort an, Holz zu sammeln. Es ist ein mühseliges Geschäft. An der Hütte selbst liegen nur ein paar dünne Ästchen. Wir steigen tief in die Hänge hinab. Ich rutsche immer wieder auf dem Schlick aus, der Laub und Stein voneinander trennt. Wir haben weder Axt noch Säge im Gepäck. Mit Ästen, die zu dick sind, können wir nichts anfangen. Sie lassen sich nicht brechen. Immer wieder laufe ich vom Camp den Hang hinab und schleppe Holz zur Feuerstelle. Der Holzstapel wächst. Ab und zu pausiere ich und sortiere die Äste nach Größe. Dann ziehe ich wieder los. Es gibt kaum etwas Befriedigenderes als für ein Wintercamp Holz zu sammeln. In aller Ruhe nach geeigneten Ästen Ausschau zu halten, sie den Berg hinaufzuziehen, ihr Knacken zu hören, das anzeigt, wie gut sie brennen werden. Es dauert rund eine Stunde, bis Belinda und ich mit unserem Holzvorrat zufrieden sind.
Bevor wir Feuer machen, wollen wir das Tarp aufbauen. Ein Tarp ist nichts anderes als eine Plane, die man mit Schnüren und Heringen auf verschiedene Arten aufspannen kann. Wir diskutieren, ob wir das Tarp überhaupt brauchen. Regnen wird es in der Nacht nicht. Gegen die Kälte bietet es kaum Schutz.
»Vielleicht strahlt das Feuer auf die Rückwand, sodass es wenigstens am Abend etwas wärmer ist«, sinniere ich.
Wir beschließen, das Tarp aufzubauen. Es ist eine gute Übung für unsere Wanderleiterausbildung. Außerdem haben wir ohnehin nicht viel anderes zu tun. Nach wenigen Minuten steht der Unterstand. Er ist zur Feuerstelle hin offen.
Es wird kühler und wir machen wieder Feuer. Belinda hat noch einen Telefontermin, also bin ich für das Feuer verantwortlich, das meine ganze Aufmerksamkeit verlangt. Dank der Birkenrinde brennt es zwar schnell, aber es ist nicht einfach, es lebendig zu halten. Das Holz ist feucht, die Äste sind teilweise vom Moos überwuchert. Ich puste und wedele mit Belindas Sitzunterlage. Sie ist aus Kunststoff. Als ich sie etwas zu nah ans Feuer halte, schmilzt sie ein bisschen. Aber das Feuer brennt.
Belindas Kocher hat mittlerweile den Geist aufgegeben. Wir vermuten, dass die Kartusche nicht in Ordnung ist. Also erhitzen wir das Wasser wieder auf offener Flamme. Die Glut leuchtet in die Nacht hinein. Wir erzählen, machen uns eine Wärmflasche und legen uns früh schlafen. Die Abendtoilette besteht aus einer Runde Zähne putzen.
Bereits gegen fünf Uhr morgens bin ich wach. Wieder kriecht die Kälte von unten in mich hinein. Schultern und Hüfte sind ausgekühlt. Mir ist nicht kalt, aber für einen tiefen Schlaf reicht die Wärme nicht mehr. Ich dämmere vor mich hin. Als es hell wird, fällt mir das Aufstehen schwer. An meinen Haaren klebt Eis. Der Biwaksack ist voller Raureif, ebenso Kapuze und Kragen meiner beiden Schlafsäcke. Ich winde mich aus meinen Schlafsacklagen und komme mir vor wie ein Küken, das sich den Weg aus dem Ei ins Freie bahnt. Anziehen muss ich mich nicht. Ich hatte in der Nacht nahezu sämtliche Kleidung an.
Das Tarp ist mit einer dünnen Eisschicht bedeckt. Tatsächlich sind meine Schlafsäcke feucht. Der Rhein hat uns in der Nacht in seinen Nebel gehüllt. Wieder machen wir Feuer. Der Rauch hat sich in Haaren, Kleidung uns Ausrüstung festgekrallt. Das Wasser in meinen Flaschen ist gefroren. Belindas Vorräte sind noch flüssig. Anscheinend war es in ihrem Rucksack ein paar Grad wärmer.
An diesem Morgen brauchen wir lange, bis wir aufbruchsbereit sind. Schlafsäcke und Biwaksäcke schwitzen am Feuer den Raureif aus. Die Luft ist schneidend kalt, der Himmel wie ein tiefer See. Obwohl die Hütte auf dem Eisenbolzköpfchen direkt am Weg liegt, dauert es lange, bis uns die ersten Spaziergänger begegnen.
Wir wollen an diesem Tag bis zum Bahnhof Hirzenach und dort den Zug nach Niederheimbach nehmen. Rund zweieinhalb Kilometer entfernt liegt Oberheimbach. Mein Onkel und seine Familie leben dort, die letzte Nacht unserer Tour wollen wir bei ihm im Garten nächtigen, obwohl er uns vor Wildschweinen und Hirschen gewarnt hat, die wohl bereits die Erdbeerbeete der Nachbarn verwüstet haben.
Verlassene Ausflugslokale
Die Strecke auf dem Rheinburgenweg führt uns an mehreren Aussichtspunkten vorbei. Im Sommer dürfte dort Hochbetrieb herrschen. Ein Ausflugslokal mit Blick auf den Rhein reiht sicht an das nächste. Jetzt im Winter ist es still. Noch nicht einmal Bänke und Stühle stehen auf den verlassenen Terrassen, auf denen sonst Touristen und Tagesausflüger Schnitzel essen und Weinschorle trinken.
Die Welt glitzert nich immer, und Wind zieht auf. Am Nachmittag bilden sich erste Wolken. Das Rheintal wird dunkler. Auf engen steilen Pfaden kämpfen wir uns zum nächsten Etappenziel. Mehrfach schreibe ich meinem Onkel, dass wir später kommen werden. Wir haben die Strecke unterschätzt.
Kurz vor Hirzenach kommen uns Zweifel. Wir hätten schon längst in den Ort abbiegen müssen. Von dem steilen Abstieg auf der Karte war kaum etwas zu spüren. An einem Bachlauf halten wir an , um festzustellen, wo genau wir eigentlich sind.
Hirzenach liegt zu unseres Linken. Doch der Rheinburgenweg führt am Dorf vorbei. Wir sind ratlos, und ich zücke das Handy. Es stimmt, wir müssten nach links, aber sämtliche Schilder lotsen uns von Hirzenach weg.
Es dauert ein paar Minuten, bis wir verstehen, was los ist. Man hat die Wegführung des Wanderwegs geändert. Unsere Karte ist veraltet.
Am Bahnhof in Hirzenach, ein schimmelgrauer verlorener Ort, merke ich, wie sehr mir die vergangenen drei Tage in den Knochen stecken. Wir sitzen und warten auf den Zug. Mein Wasser kriege ich nicht runter, es immer noch viel zu kalt. Vater Rhein wirkt wie ein in die Jahre gekommener Herr im Cordjacket.
Als wir in Oberheimbach einlaufen, dämmert es schon. Wir müssen uns beeilen, um beim letzten Tageslicht noch unser Lager im Garten aufzuschlagen.
Am Rande des Grundstücks meines Onkels plätschert ein Bach. Die Nacht wird feucht werden.
Der Rest des Abends ist Luxus: Rotkraut, Pilzrahmsauce und Klöße, ein warmes Wohnzimmer, eine heiße Dusche. Wir plaudern, am nächsten Tag beginnen die Weihnachtsferien.
Gegen zehn Uhr am Abend ziehen Belinda und ich uns in den Garten zurück. Ich drücke die Wärmflasche fest an mich und ziehe Kapuze und Wärmekragen der beiden Schlafsäcke zu, so gut es eben geht. Unter uns liegt das Tarp, das uns vor dem Gras schützt, das längst wieder von Raureif überzogen ist. In dieser Nacht ist es nicht der Rhein, der uns seine Grüße schickt, sondern der kleine unscheinbare Wasserlauf, der in der Nacht alles in eine Eisschicht hüllt.
Noch sehr früh am Morgen muss ich pinkeln. Ich winde mich aus dem Biwaksack, schlüpfe in meine Schuhe und betrete über den Hintereingang das Haus meines Onkels. Die letzten Stunden der Nacht verbringe ich auf dem Sofa im Wohnzimmer. Wieder in die frostüberzogenen Schlafsäcke zu kriechen, erscheint mir wenig verlockend. Später erfahre ich, dass Belinda genau das getan hat. Ich zolle ihr Respekt und bin sicher, dass sie in ihrem Leben noch Abenteuer bestehen wird, die mir eine Nummer zu groß sind.
Loreley in Sicht
Am letzten Tag unserer viertägigen Tour nehmen wir uns noch eine Rundwanderung vor, die in Teilen ebenfalls auf dem Rheinburgenweg verläuft. Mit dem Zug fahren wir nach St. Goar und wuchten uns zur Burg Rheinfels hinauf. Ich merke, wie erschöpft ich mittlerweile bin. Von der Burg aus wollen wir zum Loreleyblick laufen und die Aussicht auf einen der berühmtesten Felsen Deutschland genießen. Die Rundtour zählt insgesamt nur acht Kilometer, aber mit den zweieinhalb Kilometern von Oberheimbach nach Niederheimbach an den Bahnhof und dem Abstecher zur Burg Rheinfels, kommen wir an diesem Tag wieder auf rund zwölf Kilometer. Lange steigen wir von Rheinhöhe auf, über Treppenstufen, vorbei an einem Wasserfall, der direkt am Weg durch einen Felsdurchbruch rauscht. Wie riesige Tropfsteine hängen die Eiszapgen an den steinernen Wänden. Im Sommer wäre es der ideale Ort für eine erfrischende Dusche.
Auf einem schmalen Pfad, links geht es steil zum Rhein hinunter, rechts noch jede Menge Höhenmeter hinauf, überholt uns ein Wanderer. Unsere schweren Rucksäcke machen ihn neugierig. Er ist ein ehemaliger Bundeswehrsoldat, der die meisten Traumschleifen am Rhein schon gewandert ist. Unsere Rundtour ist ebenfalls Teil der Traumschleifen, einem ganzen Netz von Rundwanderwegen am Mittelrhein, in Hunsrück und Saarland, von denen ich einige ebenfalls bereits gelaufen bin.
Wir berichten dem ehemaligen Soldaten von unserem Abenteuer. Er lacht und erzählt, dass er bei der Bundeswehr oft genug draußen übernachtet habe. Das müsse er jetzt nicht mehr tun. Ich kann ihn verstehen.
Mit weiten Schritten verschwindet er hinter der nächsten Biegung. Belinda und ich kommen in dem schwierigen Terrain nur langsam voran. Wolken haben die Sonne verschluckt. Der berühmte Blick auf die Loreley ist nur noch ein Schatten, der in einem Dachboden fällt. Die Zaubertraumwelt ist verschwunden. Fotos machen wir trotzdem.
Im Nachhinein fühlt sich die Tour unwirklich an, so als hätte sich eine Tür in eine andere Wirklichkeit geöffnet. In ein Narnia hinter dem Schrank. Es könnte gut sein, dass wir alles nur geträumt haben.
Stunden später sitzen wir in der kleinen Bahnhofshalle von St. Goar. Dort ist es weniger zugig als auf dem Bahnsteig. Melinda schmiert uns Brote. Wie haben Zeit, bis der Zug kommt. Meine weiße Skihose ist dreckverschmiert, unter meinen Fingernägeln klebt Asche. Belinda und ich verabschieden uns. Im Zug kommt es mir obszön warm vor. Am nächsten Tag ist Weihnachten.
Rheinland-Pfalz: Rheinburgenweg
Land: Deutschland (Rheinland-Pfalz)
Anreise: Koblenz ist mit der Bahn erreichbar. Von dort aus kommt ihr per Bus zur Haltestelle unterhalb der Burg Stolzenfels.
Gehzeit (jeweils mit schwerem Gepäck; 20. bis 23. Dezember 2021):
Tag 1: etwa dreieinhalb Stunden Gehzeit für 10,5 km (von der Burg Stolzenfels bis zur Schutzhütte zwischen »Schmaler Sollig« und »Auf der Ahr«)
Tag 2: etwa fünf Stunden für 12,5 km (von der Schutzhütte bis zum Eisenbolzköpfchen bei Boppard)
Tag 3: etwa viereinhalb Stunden für 13 km (vom Eisenbolzköpfchen bis zum Bahnhof Hirzennach; von Niederheimbach nach Oberheimbach)
Tag 4: viereinhalb Stunden für etwa 12 km (von Oberheimbach bis Niederheimbach; dann in St. Goar zur Burg Rheinfels und von dort aus die Lorelyblickrunde über Maria Ruh
Herausforderungen: kurze Tage, lange Nächte, Kälte, teils steile An- und Abstiege, rutschiger Untergrund, ausreichend Feuerholz sammeln, Übernachtungsplätze finden. Der Rheinburgenweg ist hervorragend ausgeschildert. Verloren geht ihr also nicht. Niemand muss übrigens auf dem Rheinburgenweg draußen schlafen. Es gibt jede Menge Hotels und Pensionen im Mittelrheintal. Mit der Bahn kommt ihr leicht am Rhein von A nach B.
Höhepunkte: Sonnenauf- und untergang, Aussichtspunkte, Abende am Lagerfeuer, Bier bei Wolfgang, Raureifwelt, Abendessen bei meinem Onkel
Du hast Lust, das Mittelrheintal zu erkunden? Dann findest du auf dem Blog weitere Wandergeschichten vom Mittelrhein: etwa eine, in der ich die Loreley höchstpersönlich getroffen habe (Mittelrhein: Wie ein gemalter Zauber) oder eine andere, in der es um winzige Plagegeister und den Weinanbau geht (Mittelrhein: Landschaftspfleger).


Hallo aus Simmern, Jana!
Dein Wanderbericht hat mir sehr gut gefallen. Respekt! Ich hab’s doch lieber kuscheliger.
Liebe Grüße und noch viele schöne Wanderungen –
Christel (Seiller)
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Vielen Dank, Christel. Grüße nach Simmern!
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Hochachtung vor so einer Tour liebe Jana und kurzweilig geschrieben. DAnke für die Wandertips!.
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Liebe Erika, aber gerne doch. Ich brauche ja einen Ausgleich zum Schreibtisch 😊.
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