Eine Pilgerreise in Japan
Es ist meine erste Pilgerreise. Ich war noch nie in religiöser Mission unterwegs, bin weder auf dem Camino noch auf den Spuren von Hildegard von Bingen oder des Heiligen Bonifatius gewandert. Meine Erfahrung in Sachen Fußmarsch mit spirituellem Anspruch beschränkt sich auf Sankt-Martins-Umzüge, bei denen es mir als Laterne schwenkender Zwerg eher um die Weckmänner ging als ums Gedenken an den selbstlosen Mantelträger.
Ich weiß also nicht, was mich auf diesem japanischen Pilgerweg erwartet. Pilgern klingt aber ernsthafter als Wandern, nach innerer Einkehr und tiefen Einsichten. Ob es sich irgendwie anders anfühlt? Erhabener? Wie ein Orgelton? Prickelnd magisch?
Ich bin bereit für eine Erleuchtung, kosmische Botschaften oder irgendwas in der Kategorie brennender Dornbusch. Ich werde meinen Geist für das Universum öffnen. Vielleicht treffe ich einen alten weisen Mönch, der mir erklärt, worin meine Bestimmung liegt. Solange ich nicht in eine Fledermaushöhle ziehen muss, bin ich für Vorschläge offen.
Empfehlung eines Hüttenwarts
Die Pilgerwanderung auf dem Kumano Kodo beginnt in Neuseeland auf dem Greenstone-and-Caples-Track. Als der japanische Hüttenwart uns auf dem Trail überholt und unsere Namen notiert (keiner soll im neuseeländischen Hinterland verloren gehen) nutzen mein Freund und ich unsere Chance, einen echten Japaner auszuquetschen, und fragen ihn, welchen Wanderweg er in seinem Heimatland empfehlen würde.
Er zögert nicht: Kumano Kodo. Wie der Korken einer Sektflasche poppen die Worte aus ihm heraus, so prompt, dass für mich klar ist: Der Weg kommt auf unsere Liste.
Tempel, Schreine und Mönche aus Stein
Einige Wochen später stehe ich am Fuße eines bewaldeten Hügels, der so steil ist, dass wenige Meter ausreichen, um mir den Schweiß auf die Stirn zu treiben. Am Weg warten steinerne Mönchsfiguren. Vor ihnen liegen Münzen, als hätten ein paar Japaner ihre Portmonnaies ausgelehrt. Die Mönche lächeln mich an, als wollten sie sagen: »Ja, der Weg ist mühsam.«
Es geht viel auf und ab auf den alten Pilgerpfaden. Immer ein Hügelchen nach dem andern, Mittelgebirge eben. Der Weg ist mehr als tausend Jahre alt und liegt auf der Halbinsel Kii in der Präfektur Wakayama. Zieht man von Kyoto aus eine Linie nach Süden, würde sie den Kumano Kodo irgendwann kreuzen.
Der Pfad führt durch feuchten Wald, vorbei an unzähligen Tempeln und Schreinen. Neben einigen davon stehen Holzhäuschen. Immer wieder klappe ich ihre Türchen auf, nehme einen dicken runden Stempel heraus und drücke einen blutroten Abdruck in mein Pilgerheft, das ich von einer netten älteren Dame in der Touristinformation von Tanabe bekommen habe. Vielleicht kommt ein Kami (das ist eine Art japanischer Geist oder Gott) vorbei und will mein Stempelheft kontrollieren. Oder der Sinn des Lebens offenbart sich nur dem, der genug Stempel hat. Sicher ist sicher.
Ich puste die Tinte trocken und denke darüber nach, ob die Stempel den Unterschied machen: Pilger brauchen Nachweise über ihre zurückgelegte Wegstrecke. Vielleicht liegt die Stempeldichte auf dem Kumano Kodo aber auch nur an der japanischen Leidenschaft für Stempel. Stempelsammeln – im Park, im Zoo, im Museum – ist ein beliebter Volkssport.
Pilgerpfad mit Welterbestatus
Der Kumano Kodo hat Unesco-Welterbestatus und gehört zu den bedeutendsten Pilgerwegen der Welt. Mit dem Camino hat er eine Art Partnerschaft geschlossen. In meinem Heft ist entsprechend Platz für die europäischen Stempel. Eine Tafel informiert über die Freundschaft der Städte Tanabe und Santiago de Compostela. Im Herzen Japans strahlt mir die Jakobsmuschel entgegen.
Die Region ist auf Pilgerer eingestellt, sogar auf ausländische. An Kreuzungen warnen Schilder all die Wanderer, die des Japanischen nicht mächtig sind: »Not Kumano Kodo«. So findet sich selbst der zurecht, der sich die Schriftzeichen für den Pilgerweg partout nicht merken kann – per Ausschlussverfahren. Busse patroullieren entlang der Route, die ab und an ein Dörfchen streift, und bringen müde Pilger zu ihren Ryokans. So nennt man ein traditionelles japanisches Gästehaus, in dem man auf dem mit Tatami-Matten belegten Fußboden schläft. Mein Freund und ich haben uns fürs Campen entschieden.
Der Kumano Kodo zeigt charmant, was ich an Japan alles nicht verstehe. Der Shintoismus kennt unzählige Götter und vermischt sich in Japan mit dem Buddhismus. Ich habe längst den Überblick verloren, lerne aber auf dem Kumano Kodo zumindest eine der Gottheiten etwas näher kennen: eine dreibeinige Krähe, die in Hongu Taisha auf Wimpeln und Keksdosen prangt und als Anhänger zu haben ist. Der Vogel soll einem japanischen Kaiser einst den Weg geleitet haben.
Täglich wandere ich an Stelen mit japanischen Schriftzeichen vorbei, die ich nicht lesen kann. Vor den Schreinen reihen sich Laternen wie Menschenschlangen in der U-Bahn von Tokio aneinander – und ich habe keinen blassen Schimmer, warum. Die Namen der Ortschaften und Tempel bereiten mir Schwierigkeiten: Chikatsuyu-oji, Hosshinmon-oji oder Kusuyamazaka. Legenden trudeln in meinem Kopf herum wie die ungewohnten japanischen Silben. Letzen Endes ist mir Japan genauso fremd wie tiefe Religiosität. Ein echter Pilger wird aus mir wohl nicht werden.
Japaner sprechen stille Gebete
Willkommen fühle ich mich auf dem Kumano Kodo trotzdem. Ich mag, wenn Japaner die Glocken an den Schreinen läuten, kurze stille Gebete sprechen und dann Tüten voller Souvenirs kaufen. Ohne »Omiyage« kommt kaum ein Japaner von einer Reise zurück nach Hause. In Japan sind das Heilige und das Profane enge und gute Nachbarn; Glücksbringer und Segenswünsche schaden nicht.
Mein Freund und ich laufen über Pflastersteine, die so alt aussehen, dass ich glaube, hinter jeder Biegung müsse ein Samurai auf einem Baumstamm sitzen, gestützt auf sein Schwert. Überreste alter Teehäuser versinken am Wegrand in der Erde. Sie bezeugen, dass der Kumano Kodo schon vor Jahrhunderten ein viel begangener Pfad war und Pilger auch damals nichts gegen eine Brotzeit einzuwenden hatten. Gut, in Japan war es wahrscheinlich eher eine Reiszeit.
Eine Krabbe eilt über den Waldboden
Statt Samurai sehe ich plötzlich etwas Anderes, das mich kaum weniger überrascht. Etwas Kleines, das über den Boden huscht: Eine Krabbe krabbelt durch den Wald.
Das Orange ihres Panzers knallt in die sanften Waldfarben wie ein Clown auf einer Beerdigung. Ich stupse die japanische Frischwasserkrabbe sanft mit einem Stöckchen und frage sie, ob sie ein Kami ist. Der Krabbler bleibt stumm und fuchtelt furchtlos mit seinen Scheren. Vielleicht hält sie sich für einen Samurai. Ich lasse die Krabbe ziehen. Auf den vier Tagen auf dem Kumano Kodo treffe ich jede Menge ihrer Artgenossen, außerdem zwei Schlangen und ein paar Makaken. Aus Erdlöchern tröten Kröten, und obwohl mein Freund und ich vor Dutzenden ihrer Verstecke lauern, lässt keine sich blicken. Immerhin begegnen wir einem Frosch.
Das größte Torii Japans
Am vorletzten Tag unserer Tour streichelt dann doch noch so etwas wie Ergriffenheit meine Seele. Schon von einigen Kilometern Entfernung ist das größte Torii Japans zu sehen: mehr als dreißig Meter hoch und mehr als vierzig breit. Das monumentale Otorii genannte Tor könnte die Eintrittspforte in eine andere Galaxie sein. Wer unter dem grauen Stein nur die richtigen Worte spricht, reist zurück in der Zeit, findet seine Bestimmung, fühlt Gott, wird eins mit seinen Ahnen. Zumindest sieht es so aus: ein Bauwerk wie aus einem Hollywoodstreifen, in dem es um Abenteuer und Schätze geht, außerordentlich »instagrammable« und eigentlich ein bisschen zu protzig für spirituellen Zauber.
Natürlich passiert rein gar nichts, als ich unter dem Torii hindurchgehe. Es erfüllt keinen erkennbaren Zweck, steht nur da wie ein Wächter, der nichts mehr zu bewachen hat. Es ist noch nicht einmal besonders alt. Das Torii wurde erst im Jahr 2000 gebaut und markiert die Stelle, an der einst Hongu Taisha stand, bevor der Fluss nebenan den Schrein hinweggespült hat. Die Reisfelder nebem dem Torii plätschern; ein Bauer in Gummistiefeln tuckert in einer Art Minitraktor herum. Touristen streunen über das Gelände. Hongu Taisha – längst gibt es einen Tempelneubau in sicherer Entfernung vom Fluss – ist ein beliebtes Ausflugsziel und das Herz des Kumano Kodo: Alle Pilgerrouten des weit verzweigten Wegenetzes führen dorthin.
Bevor wir uns per Bus auf den Weg zum Campingplatz machen, nehme ich Abschied von Hongu Taisha und verbeuge mich – ganz japanisch – vor dem Torii. Ich habe das Gefühl, dass sich die Enden der oberen Querbalken leicht nach oben ziehen. Das Tor schmunzelt und scheint zu flüstern: »Du Dummerchen!«
Kumano Kodo: Eine Pilgerreise in Japan
Land: Japan
Anreise: Mit der Bahn kommt man nach Kii-Tanabe. Von dort fahren Busse zum Ausgangspunkt der Wanderung: Takijiri-Oji. Die Busfahrpläne zum Kumano Kodo findet ihr hier.
Gehzeit: Dreieinhalb Tage für die von uns gewählte Strecke (25. bis 28. April 2019). Wir sind die sogenannte Nakahechi-Hauptroute gelaufen, die von Takijiri-Oji bis Oyunohara (dort steht das oben erwähnte Otorii) verläuft und sind dann noch über die Kogumotoro-goe-Route bis nach Koguchi marschiert – insgesamt also rund 50 Kilometer. Aufgrund der Busfahrpläne sind wir einen Teil des Weges in die umgekehrte Richtung gelaufen. Alle wichtigen Infos zum Weg, Unterkünften, Karten etc. findet ihr hier.
Herausforderungen: Der Kumano Kodo ist gut ausgeschildert und bis auf wenige Teilabschnitte gut begehbar. Es gibt längere (durchaus anstrengende) Steigungen und Abstiege, die sich zwar ziehen, aber nie wirklich schwierig sind. Auf den einzelnen Etappen gibt es wenige bis gar keine Einkehrmöglichkeiten; Proviant müsst ihr also in jedem Fall mitnehmen. Die Busse fahren nicht allzu oft, ihr solltet also vorher die Fahrpläne prüfen, wenn ihr zum Beispiel am Nachmittag zurück zur Unterkunft wollt.
Je nach Jahreszeit ist viel los auf und rund um den Kumano Kodo. Deshalb ist es empfehlenswert, Unterkünfte rechtzeitig zu reservieren.
Höhepunkte: Tempel, Schreine, Tee- und Reisfelder, Aussichtspunkt in Takahara, Stempel sammeln, Hongu Taisha, japanische Frischwasserkrabben, Schlangen, Makaken, Onsen (traditionell japanisches Bad)
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