Dave wird diesen Text nicht lesen. Er weiß nichts von diesem Blog und davon, dass er im Mittelpunkt dieser kurzen Geschichte steht. Aber ich möchte, dass ihr ihn kennenlernt. Er ist es wert, auch wenn Dave selbst davon wahrscheinlich nicht überzeugt wäre.
Ein unbekannter Track
Ich habe Dave auf dem Matemateaonga-Track in Neuseeland kennengelernt, einem abseits gelegenen Wanderweg, auf den sich laut Dave nur selten Wanderer verirren. Selbst die Dame in der Touristinformation hatte noch nie vom Matemateaonga gehört.
Der Track gehört nicht zu den spektakulärsten in Neuseeland und ist schwer zu erreichen. Dave ist den Matemateaonga schon mehrfach gegangen, in der Regel läuft er die zweiundvierzig Kilometer lange Strecke durch dichten Farnwald hin und wieder zurück.
Bereits einige Zeit hatte Dave vor der Hütte am Matemateaonga gesessen, als mein Freund und ich dort ankamen. Ich quälte mich seit einigen Tagen mit einer Erkältung und war froh, den kurzen, aber steilen Anstieg vom Whanganui-Fluss hinter mir zu haben.
Eine Schülergruppe und ihre Betreuer hockten auf dem Boden rund um die Hütte. Dave schien nicht dazuzupassen, er wirkte zu aufgedreht für einen erwachsenen Mann. Er hatte sein grau-meliertes schütteres Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug ein zerschlissenes T-Shirt.
Der Mann, mit dem er sich unterhielt, blieb gegenüber Dave höflich distanziert. Dave störte das nicht, er war offensichtlich in Plauderlaune, erklärte, dass man das Possumproblem in Neuseeland doch dadurch lösen könne, dass man jedem, der nach Australien fliegt, ein Possum mit ins Gepäck gibt. Mir gefiel die Idee: Possums in Aktenkoffern und Gucci-Handtaschen, Possums beim Körperscan, Possums im Servierwagen der Stewardessen und unter den Sitzen bei den Rettungswesten.
Ein neuer Bekannter
Die Schulklasse und ihre Betreuer machten sich bald auf den Weg zurück zum Fluss. Jetzt war es ruhig. Von diesem Moment an waren wir alleine mit Dave an der Hütte. Sachte näherten wir uns einander an, umkreisten uns, ein vorsichtiges Abtasten der Person, mit der wir die Nacht in der Hütte verbringen würden. Woher kommt ihr? Was hat euch nach Neuseeland verschlagen? Welche Wanderungen habt ihr hinter euch?
Oft bleibt es dabei, und so prägt sich mir nicht jede Begegnung auf einem Wanderweg ein, viele sind nur unauffällige Accessoires. Aber alle paar Wochen treffen mein Freund und ich einen, der Spuren hinterlässt, dessen Blick auf die Welt wie ein Mikroskop unsichtbare Zusammenhänge zeigt.
Dave ist so einer, ein Vielleser, der seine grauen Taschenbücher in Secondhand-Läden kauft. Ich schätze ihn auf Mitte vierzig. Nichtraucher. Er lebt irgendwo in der Gegend um Palmerston North. Wer wirklich eine Herausforderung sucht, sagt Dave, der soll eine Woche in Palmerston North Urlaub machen.
Campervan als Freiheitssymbol
Dave hat kein Smartphone, nur ein altes Tastentelefon. Er kann Dinge reparieren wie Autos und Toaster und lebt in einem Haus voller kaputter Sachen, die auf den Tag warten, an dem sich Dave um sie kümmert. Er hat sich einen bunten Campervan gekauft, weil er Freiheit fühlen wollte, obwohl ihm klar ist, dass ein Campervan ihn nicht aus seinem Gedankenknast befreien kann. Freiheit gibt es nicht beim Gebrauchtwagenhändler.
Sonst weiß ich nicht viel von Dave, ob er einen Job hat zum Beispiel, verheiratet ist oder war. Aber ich verstehe ihn gut.
Schon am ersten Tag auf dem Matemateaonga redeten wir uns durch die Stunden. Dave kochte Vollkornreis. Den isst er auf Wanderungen jeden Tag. Es gab für uns nichts zu tun, außer unseren Gedanken zu folgen, wie sie zusammen leichtfüßig von einem Ort zum anderen sprangen. Längst war es dunkel, als wir unsere Dreierrunde auflösten, um uns schlafen zu legen.
Es gibt wenige Menschen, die ich so schnell mochte wie Dave. Vielleicht weil er ein Zweifler und von so wenig überzeugt ist. Er jagt den Gespenstern eindeutiger Antworten hinterher, obwohl er sich sicher ist, dass es sie nicht gibt. Darf man jemanden, der Wegmarkierungen mit einer Axt zerhackt, als Idiot bezeichnen? Ist Reisen sinnvoll? Soll man Geld sparen?
Am dritten Tag auf dem Track trafen wir Dave wieder, der viel schneller unterwegs war als wir, obwohl er mit der kleinen Säge, die er herumschleppte, zwischendurch den Matemateaonga freischnitt.
Er lag auf einer Matraze vor der Hütte und las. Er sei in seinem Buch noch nicht weit gekommen, sagte er, und habe deshalb entschieden, einen Tag länger auf dem Track zu bleiben.
Ich glaube, Dave hat an diesem Tag auf uns gewartet. Nachmittag und Abend vergingen mit all den vielen Fragen, die Dave an das Leben stellt.
Am nächsten Tag stiegen wir in Daves Campervan, dem einzigen Auto auf dem Wanderparkplatz. Er würde uns bis Stratford mitnehmen, der nächstgelegenen größeren Ortschaft.
Es dauerte, bis wir die ersten Häuser sahen und eine befestigte Straße erreichten. Nur wenige Autos waren auf dem Forgotten World Highway unterwegs. Es regnete heftig. Ein in Plastik gehüllter Radfahrer strampelte sich über die Hügel. Wenn ein Auto kommt, sagte Dave, sollten wir alle lachen. Er grinst. Schließlich säßen wir in einem Campervan. Da müsse man ja glücklich sein.
Whanganui: Matemateaonga-Track
Land: Neuseeland (Nordinsel)
Anreise: Der Start- oder Endpunkt des Weges liegt am Whanganui-Fluss. Dorthin kommt man ausschließlich per Jetboot, zum Beispiel von Pipiriki aus. Am anderen Ende des Weges gibt es einen Parkplatz, der mit dem Auto erreichbar ist. Es gibt keine Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel.
Gehzeit: Dreieinhalb Tage für 42 Kilometer (29. November bis 2. Dezember). Der Weg lässt sich sich gut in drei Tagen bewältigen.
Herausforderungen: Der Matemateaonga ist zu weiten Teilen dicht überwuchert, der Weg oft schwer erkennbar, da es aber nur einen Weg gibt, verläuft man sich eher nicht. Häufig liegen riesige Baumstämme auf dem Weg. Man versinkt regelmäßig im Matsch. Der Weg ist nicht besonders abwechslungsreich, man braucht schon eine gewisse Liebe für den Wald, um sich nicht zu langweilen. Dafür ist der Weg bis auf das erste Teilstück nach dem Fluss flach, also nicht besonders anstrengend.
Höhepunkte: die Anreise mit dem Jetboot, die Begegnung mit Dave, die Einsamkeit und die Ruhe, die Jagdzeitschriften in den Hütten (für Nicht-Jäger eine interessant-obskure Lektüre), Moos an den Bäumen, Farne, Aussicht auf das Tongariro-Massiv
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Schön von euch zu hören.
Dachte schon der Taifun, Monsun, Hurrikan oder was auch immer da bläst hätte euch fortgetragen.
Grüsse,
Martin
P.S.: Ne ultraleichte Opossum-Mütze würde mir noch fehlen 😉
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Alles klar, das nächste Possum muss dran glauben 🙂
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Schöne vorsichtige Annäherung an einen anderen Menschen gefühlvoll beschrieben. Gefällt mir!
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Lieber Hajo, danke für deinen Kommentar. Das verrückte ist, dass sich so etwas nicht planen lässt, genau wie viele andere Sachen. Sie passieren. Einfach so. Liebe Grüße!
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Ein tolles Erlebnis, eine gute Geschichte, die fast nach einer (fiktiven) Fortsetzung schreit. Du hast mich neugierig auf Dave gemacht, und das liegt nicht nur an der Namensgleichheit. Dave, der sich allein durch abseitige Pfade in der Wildnis schlägt, der von Abenteuern zu berichten hat. Nur welchen? 🙂
Dieser Idee mit den Possums führte mir sogleich ein Wimmelbild vor Augen, das Innere eines Flugzeugs und aus jeder Ecke, Tasche, dem Cockpit, unterm Servierwagnen schaut ein Possum hervor. Eine sehr lustige Vorstellung, man sollte es zeichnen. 😉
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Lieber David, Dave wäre dann so etwas wie der Antiheld. Am Ende würde er aus Versehen von Jägern auf dem Matemateaonga erschossen. Gierige Possums würden an seiner Leiche nagen, und alles was bliebe, wäre der Campervan und dieser Blog.
Das wäre eine arg traurige Geschichte. Liebe Grüße!
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Traurige Geschichten können ja trotzdem schön sein, zumindest schön zu lesen.
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