Sehnsuchtsorte vom Hunsrück bis nach Japan
Falleri und fallera: Ihr lest gerade den einhundertsten Beitrag auf »Fußläufig erreichbar«. Heute klopfe ich mir auf die Schulter. Herzlichen Glückwunsch, liebe Jana, du hast dreieinhalb Jahre durchgehalten. Deutschlands berühmtester Wanderblogger bist du noch nicht, aber du gibst nicht auf.
Die Sache mit dem Bloggen könnte so einfach sein, wäre da nicht die Sinnfrage, die sich wie bei wahrscheinlich vielen Hobbypublizisten immer wieder in meine Gedankenwelt schleicht und sich dort wie eine Zecke festbeißt. Wandern ist Zeitverschwendung, ein pseudoromantischer Wunschtraum zivilisationsgeschädigter Mittelstandsspießer. Bloggen ist Selbstdarstellung, die Weigerung, der eigenen Bedeutungslosigkeit ins Auge zu sehen. Die Sehnsucht nach fünf Minuten Ruhm in der virtuellen Seifenblase.
Mach was Sinnvolles!, sagt die Zecke. Sammel Müll am Neckar! Pfleg ein paar Streuobstwiesen! Ich klemme das Vieh zwischen die Fingernägel und reiße es aus einer rosafarbenen Hirnfalte. Von so einem Parasit lasse ich mir die Party zum einhundertsten Eintrag auf meinem Blog nicht verderben, auch wenn die Zugriffszahlen nach wie vor bescheiden sind und die Frage, wozu ich hier in die Tasten haue, mehr als angebracht ist.
Wahrscheinlich glaube ich daran, dass es irgendwo da draußen einen Leser gibt, der sich nach draußen locken lässt. Der mit mir auf Reisen geht, der sich plötzlich nach dem Duft von nassem Waldboden sehnt oder dem auffällt, dass er noch nie einem Zilpzalp zugehört hat. Also schreibe ich, reihe meine Wörter aneinander wie meine Schritte, die mich überall hintragen.
Mittlerweile gibt es Wandergeschichten aus Japan und Australien, aus Frankreich und Schottland, aus der Pfalz und dem Odenwald. In einigen kommen seltsame Tiere, in anderen interessante Menschen vor. Ihr könnt nachlesen, wie ich von Schafen verfolgt wurde, ob Eipulver als Wanderproviant taugt und wie es sich anfühlt, dem Alltag für ein Jahr den Rücken zu kehren. Ich habe im Odenwald den Holzwümern gelauscht und auf Mallorca unter Sternen geschlafen. Ich bin gepilgert, und durch Schneelandschaften gestapft. Ich habe andere Wanderblogger kennengelernt, einen Ranger, Dave und den Butteresser.
In den vergangenen Jahren bin ich den Schluchtensteig im Schwarzwald gewandert, den Harzer Hexenstieg, den Bibbulmun, den Kumano Kodo, den Matemateāonga und den Padjelantaleden. Ich habe mich Berge hinaufgeschleppt, aus Quellen getrunken, auf Hütten gesessen, Walderdbeeren gepfückt und immer wieder meinen Rucksack gepackt. Regen ist in meine Jacke gekrochen, Schnee ist auf meiner Haut geschmolzen. Ich war ein paar Etappen auf Westweg, Burgen-, Wein- und Nibelungensteig unterwegs, habe Burgen und Schlösser besucht und die Mauern von Klosterruinen und Kirchen in den Himmel wachsen sehen.
Und ich bin noch nicht fertig mit der Welt da draußen. Allein in Deutschland gibt es laut Wikipedia rund 300.000 Kilometer Wanderwege – mehr als ich in meinem Leben noch schaffen kann. Bald werde ich vierzig. Allzu viel Zeit habe ich nicht mehr. Ich muss also weise wählen.
Zum einhundertsten Beitrag liste ich euch fünf Wanderwege beziehungsweise -regionen auf, die ich in den nächsten vierzig Jahren gerne entdecken würde – eine Art Sneak Preview sozusagen. Vor Zecken habe ich keine Angst, nur davor, dass mir die Lebenszeit vor der Wanderlust ausgeht.
1. Ungemütlich: der Artic-Circle-Trail auf Grönland
Zugegeben: Die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich jemals hinauf nach Grönland wage, ist gering. Verglichen mit Nordschweden soll der Artic-Circle-Trail noch nicht einmal besonders spektakulär sein. Die Anreise ist mühsam, teuer und per Flugzeug nicht gerade klimafreundlich. Im Sommer fressen die Mücken die Wanderer. Ein sturmfestes Zelt und ein Schlafsack, in dem ich auch Minusgrade aushalte, sind Pflicht.
Für die rund 170 Kilometer lange Strecke braucht man rund zehn Tage. Nach dem Padjelantaleden und dem Bibbulmun habe mir geschworen, nie mehr für so eine lange Zeit Lebensmittel mit mir herumzuschleppen. Einkaufen kann man am Weg nämlich nicht.
Trotzdem kribbeln meine Füße, wenn ich irgendwo vom Arctic-Circle-Trail lese. Ich habe das Gefühl, er wartet auf mich. Einen Polarfuchs zu treffen, wäre mir einiges an Strapazen wert.
2. Was lange währt: der E8 – von Irland bis Istanbul
Ein kleines Stückchen ist schon geschafft, genauer gesagt die Strecke von Monsheim nach Gadernheim. Rund 50 der etwa 7500 Kilometer des Europäischen Fernwanderwegs Nummer 8 haben mein Freund und ich hinter uns, also ein Hundertfünfzigstel der Gesamtstrecke.
Wenn wir jedes Jahr fünfhundert Kilometer auf dem E8 laufen, brauchen wir für die gesamte Strecke rund fünfzehn Jahre. Da ich aber noch ein paar andere Sachen vorhabe (siehe die Punkte 1, 3, 4 und 5) wird es wohl mindestens bis zur Rente dauern, bis ein paar tausend E8-Kilometer gewandert sind. Für den Rest muss der Ruhestand reichen. Sollte ich vorher noch einen Sponsor finden, der mich fürs Fernwandern bezahlt, geht’s vielleicht auch schneller. Aber das halte ich momentan für ebenso wahrscheinlich, wie dass ich demnächst auf dem Artic-Circle-Trail einem Polarfuchs begegne.
Einmal quer durch Europa zu wandern, hat in Zeiten, in denen die Europäische Union bröckelt und die Errungenschaften eines geeinten Europas in Vergessenheit zu geraten drohen, für mich einen besonderen Reiz. Ein Teilstück des Fernwanderwegs verläuft in der Nähe von Mannheim, meinem Zuhause. Mit diesem Abschnitt haben mein Freund und ich vor Kurzem begonnen – von dort aus arbeiten wir uns weiter nach Osten vor, bis wir irgendwann am Bosporus stehen. Das Teilstück Irland-Deutschland folgt später. Zur Not mit Rollator.
3. Zurück in die Heimat: der Saar-Hunsrück-Steig
Ich komme aus dem Hunsrück, mein Freund aus dem Saarland. Den Saar-Hunsrück-Steig verstehe ich als Inkarnation unserer Beziehung.
Ich bin davon überzeugt, dass der Hunsrück meine Seele geprägt hat. Mir liegt das Einfache. Ein geschlossener kleiner Kosmos, der endet, wo Rhein und Mosel beginnen. Die Mittelgebirgslandschaft wird nie zu den Wanderhotspots aufschließen; daran wird auch der 2015 eröffnete Nationalpark Hunsrück-Hochwald nichts ändern. Die touristische Infrastruktur in Saarland und Hunsrück ist dürftig. Busse fahren einmal morgens und abends. Die Dörfer werden älter und die Windräder mehr. Man kauft bei Globus, baut noch eine Garage und erntet im Garten Johannis- und Stachelbeeren. In den Kellern der Einfamilienhäuser stapeln sich Marmeladevorräte; die Nachbarn sind erbost, wenn die Werbeblättchen vom Supermarkt nicht pünktlich im Briefkasten landen.
Der Steig ist mehr als vierhundert Kilometer lang, bislang kenne ich nur ein paar kleinere Teilstrecken. Irgendwann werde ich dorthin zurückkehren, wo ich hergekommen bin. Ich werde auf Bänken sitzen und Rapsfelder blühen sehen. Ich werde den Schatten der Bäume auf der Haut spüren und mich über Schlüsselblumen auf Wiesen freuen. Ich werde mich daran erinnern, wie es früher war und mit meinem Freund darüber streiten, ob es nun im Saarland oder im Hunsrück schöner ist.
4. Auf den Spuren einer Nonne: Crescentia-Pilgerweg im Allgäu
Vor ein paar Woche war ich im Allgäu und habe Bekanntschaft mit einer Dame gemacht, von der ich noch nie gehört hatte. Wenn man ihren Bildnissen glauben darf, hatte Maria Crescentia Höss eine lange gerade schmale Nase, wache braune Augen und Grübchen neben ihrem spitzen Mund. Sie schaut ein wenig skeptisch drein, als hätte sie Besseres zu tun, als sich porträtieren zu lassen. Wahrscheinlich hatte sie das auch, denn schließlich wurde sie irgendwann heilig gesprochen. Dafür muss muss man ja schon einiges vorweisen können. Mitte des achtzehnten Jahrhunderts war Maria Crescentia Höss Oberin im Kloster Kaufbeuren. Sie soll ein Händchen für die wirtschaftlichen Belange ihres Klosters gehabt haben und war als Beraterin gefragt.
Der nach ihr benannte Rundweg im Allgäu ist neunzig Kilometer lang. Es lässt mein feministisches Herz höher schlagen, auf den Spuren einer klugen Frau unterwegs zu sein. Vielleicht verbringe ich sogar eine Nacht im Kloster – einer Welt, die mir so fremd ist wie einem Regenwurm die Wüste. Das Allgäu ist nicht weit weg, es gibt dort leckeren Käse und Limonade mit Heugeschmack. Ausreden habe ich also keine.
5. Japan ruft: Auf nach Hokkaidō!
Fast drei Monate war ich in Japan, aber bis auf die nördlichste Insel des Landes habe ich es nicht geschafft. Hokkaidō ist für mich unentdecktes Land. Dünn besiedelt, aktive Vulkane, heiße Quellen, Nationalparks und Wanderwege von einer Küste zur anderen. Und zumindest theoretisch ist Japan ohne Flugzeug erreichbar. Ich könnte mit der transsibirischen Eisenbahn bis zur Küste fahren und von dort aus mit dem Schiff übersetzen.
Die paar Sätze Japanisch, die ich während meines Sabbatjahrs in Fukuoka gelernt habe, sind mittlerweile eingerostet, aber ich weiß: In Japan komme ich zurecht, selbst wenn ich kein einziges Wanderschild lesen kann. Was ich mache, wenn ich auf Hokkaidō einem dreihundert Kilogramm schweren Braunbären begegne, weiß ich allerdings nicht.
Ich kann euch nicht versprechen, dass aus all diesen Träumen Wandergeschichten werden. Wenn ich die Touren nicht schaffe, könnte einer von euch so nett sein und meine Asche auf einem der Wege verstreuen? Ach, ja: Ein QR-Code auf meinem Grabstein wäre auch nett – mit Link auf den Blog. Danke vielmals!