Er tut mir leid, der Mitarbeiter im Besucherzentrum von Arthur’s Pass. Tagein, tagaus die gleiche Frage, wie ein nässender Ausschlag, der immer wiederkommt: Wo kann man hier bitte die Keas sehen? Der Mitarbeiter sackt zusammen, als hätten er eine Ohrfeige bekommen. Ich möchte ihm den Kopf tätscheln, und ihm sagen, dass seine grüne Uniform fast so schön ist wie das Gefieder der Keas, lasse es dann aber doch bleiben.
Der Papagei mit dem zackigen Namen ist die Attraktion in Arthur’s Pass. Alle kommen sie wegen des kräftig-kompakten Vogels: Weltenbummler, Rentner, feingliedrige ältere Damen, Rennradkatecheten und mein Freund und ich.
Das Problem an Neuseeland: Landschaftliche Superlative gibt es fast überall. Standardberge reichen nicht aus, um den Standardtouristen auf seinem Roadtrip zu einem Abstecher nach Arthur’s Pass zu bewegen. Aber wenn man da noch ein paar Keas „mitnehmen“ kann, sieht die Sache natürlich anders aus. Und so ist das Dorf am State Highway 73 nicht nur ein Wanderer-El-Dorado, sondern auch ein beliebter Zwischenstop für Busse, Camper und Backpacker auf dem Weg zwischen Ost- und Westküste.
Papageien als Cafébesucher
Die Keas sind wahrscheinlich beim Café, seufzt der Mitarbeiter. Er lässt die Schultern hängen. Ich vermute, dass er sich für die Gier der Vögel nach Keksen und Kuchen schämt. Es ist ihm unangenehm, dass sich die Papageien lieber fettiges Zuckerzeug in den Schnabel stopfen, statt erhaben über die Wipfel rund um Arthur’s Pass zu schweben.
Die Keas mögen keinen Regen, fügt er noch an und schaut durchs Fenster. Arthur’s Pass liegt auf der neuseeländischen Südinsel, umringt von Nationalpark und noch mehr Nationalpark, und ist ein Schlechtwettermagnet. Der Himmel sieht auch an diesem Tag aus, als hätte ihn jemand sorgfältig mit Recyclingklopapier ausgekleidet.
Wasservorhänge am Fenster
Die nächsten Tage hängt ein dichter Wasservorhang über den Fenstern. Wanderer tropfen. Junge Wasserfälle stürzen sich voller Tatendrang Richtung Meer. Straße und Bahnstrecke, die über den 730 Meter hohen Pass führen, werden bald für mehrere Stunden gesperrt. An mehrtägige Wandertouren ist nicht zu denken.
Das Wetter rettet mich vor der Besteigung des Avalanche Peak, die meine Freund und ich ins Auge gefasst hatten. Seit Tagen fühle ich mich schlaff wie der durchhängende Schwabbelbauch einer übergewichtigen Katze. Ich bekomme Atemnot, wenn ich auf mein Stockbett in der Jugendherberge steige.
Aber einen Spaziergang oder eine Miniwanderung könnte ich schaffen. Wir erkundigen uns beim Mitarbeiter im Besucherzentrum. Er schaut uns mitleidig an. Morgen sei das Wetter noch schlechter, sagt er und starrt wieder hinaus ins Grau.
Spaziergang zum Devils Punchbowl
Mein Freund und ich entscheiden uns für einen Spaziergang zu Devils Punchbowl, einem Wasserfall. Es nieselt und auf meinem Haar wächst ein feuchter Flaum. Ein Kind in einem Tragegestell sieht aus, als hätten die Eltern den Jungen in Plastikfolie gewickelt. Ich suche den Birkenwald nach Keas ab und schleppe mich keuchend Stufe um Stufe zu einer Holzplattform, von der aus sich das Naturspektakel beobachten lässt. Ich sauge den kalten Dampf in meine verklebten Lungen und höre, wie das Wasser zwischen den Felsen hallt. Ein Papagei ist nicht zu sehen.
Genug bewegt, denke ich. Ich will Kaffee. Und Keas. Wir treten den Rückweg an.
Das Café liegt direkt an der Hauptstraße von Arthur’s Pass, wo sowieso fast alles liegt, denn das Dorf besteht nur aus einem schmalen Tal, das sich zwischen die umliegenden Hänge quetscht.
Die blutige Wahrheit über den grünen Touri-Liebling
Der erste Kea meines Lebens (ich vergesse augenblicklich alle meine Krankheitssymptome) spaziert auf dem Holztisch vor dem Café auf und ab, unbeeindruckt von den Touristen, die Handys und Kameras auf den Vogel halten. Ich lächle ihn an und weiß, er hat eine dunkle Seite.
Dave hatte uns auf dem Matemateaonga erzählt, dass die Keas nicht nur an Scheibenwischergummis, sondern auch gerne an Schafen knabbern. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn die Schafe tot wären. Die Keas landen auf dem Rücken der wolligen Vierbeiner, hacken mit ihrem kräftigen Schnabel auf ihnen herum und reißen kleine Stücke aus ihrem Fleisch. Das bringt das Schaf nicht direkt um, aber begeistert dürfte es vom Keabesuch eher nicht sein.
Ich hatte die Geschichte als Wandererlatein abgetan, aber sie stimmt. Kein Wunder, dass die Keas bei Farmern nicht gerade beliebt sind. Sie wurden zu Tausenden geschossen. Heute gelten sie als gefährdet, was aber nicht nur mit dem Hass der Hirten, sondern auch mit dem Verlust von Lebensräumen und, so meine Theorie, ein kleines bisschen mit der Intelligenz der Vögel zu tun hat. Wie Menschen setzen sie ihre Hirnleistung gerne dafür ein, am eigenen Untergang zu feilen. Sie sind schlau genug, Dummheiten zu begehen.
Die Keas nehmen jede Gelegenheit wahr, unvorsichtigen Touristen die Pies vom Teller zu klauen oder als Müllschlucker aufzuklauben, was übrig bleibt. Menschliche Nahrung ist aber keine gesunde Diät für einen Bergpapagei. Außerdem reizt der Geschmack verbotener Früchte die Vögel, alles Mögliche zu probieren, einschließlich der Giftköder, die den eingeschleppten Hermelinen und Ratten in Neuseeland den Garaus machen sollen. Es ist streng verboten, die Keas zu füttern, aber die Vögel (und einige unbelehrsame Touristen) kümmert das nicht.
Wie unglaublich intelligent die Papageien sind, verstehe ich aber erst, als ich Zeuge eines Keaverbrechens werde, das einem Posträuber alle Ehre machen würde.
Ein Vogel dringt ins Café ein
Mein Freund und ich haben uns im Café einen Fensterplatz gesucht, um die Kea-Mensch-Interaktion von der warmen Stube aus zu studieren. Ein Kea treibt sich vor der Tür des Cafés herum, die sich automatisch öffnet, wenn sich ein Gast nähert. Der Kea tut so, als wäre er nur zufällig da, trippelt nach rechts und links.
Wusch, die Tür öffnet sich. Der Kea beschaut sich die ihm entgegentretenden Menschenschenkel und wirft einen Blick ins Café, dem gelobten Land der Keas von Arthur’s Pass. Er watschelt nachdenklich umher.
Wusch. Ist die Luft rein? Der Kea hüpft über die Schwelle. Wusch. Der Kea stolpert wieder hinaus. Er schaut in die Luft, scharrt mit den Krallen, sein Kopf wackelt. Wusch. Er hopst rein. Wusch. Wieder raus. Rein. Raus. Rein. Bleibt drin. Was macht der Kea im Café? Ich halte die Luft an.
Als sich die Tür öffnet, stürzt der Papagei hinaus. Er hat es geschafft, der Coup ist gelungen. Er wirkt zufrieden, ist ein Siegertyp.
Seine Beute – eine Packung Kekse – hält er im Schnabel. Keiner traut sich, den Dieb zu stellen. Er nimmt Anlauf für ein paar wackelige Flügelschläge, die ihn ins Gebüsch katapultieren, wo er die Kekse zu verspeisen gedenkt.
Wow, denke ich. Mein Mund steht offen und ich vergesse, meine Cappuccinotasse wieder abzustellen. Den Mitarbeiter im Besucherzentrum verstehe ich jetzt etwas besser. Das nächste Mal, wenn ich in Arthur’s Pass bin, drücke ich ihn ganz fest.
Arthur’s Pass: Devils Punchbowl
Land: Neuseeland (Südinsel)
Anreise: Arthur’s Pass ist zum Beispiel von Greymouth oder Christchurch aus per Shuttlebus, Auto oder mit dem Zug erreichbar. Der Spaziergang beginnt in der Nähe des Dorfzentrums.
Gehzeit: etwa eine Stunde für zwei Kilometer (21. Januar 2019)
Herausforderungen: Wenn es stark regnet, muss man über ein paar Wasserläufe hüpfen. Die Treppen (bei Nässe Rutschgefahr) zum Wasserfall sind durchaus geeignet, um aus der Puste zu kommen.
Höhepunkte: Keas natürlich! Der Wasserfall, namens Devils Punchbowl, ist aber auch ein ansehnliches Spektakel. Er liegt in kühlem Birkenwald. Beeindruckt hat mich auch die Überquerung der Brücke über den Bealey River: Dank des Regens hat der Fluss geschäumt und Wellen geworfen.
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