Dass es bald ernst wird, habe ich gemerkt, weil ich Fenster geputzt habe. Das mache ich normalerweise nicht. »Irgendwann werden sie nicht mehr schmutziger«, sagt mein Freund. Ich finde, er hat recht. Aber jetzt vermiete ich meine Wohnung und dachte, dass meine Zwischenmieterin vielleicht saubere Fenster mag. Genützt hat es nichts: Die Fenster haben Putzschlieren, und geregnet hat es auch. Ich gebe mich geschlagen. Der Schmutz gewinnt.
In einer Woche breche ich auf. Ich umarme Freunde und Familie, drücke sie fest wie eine Zahnpastatube, aus der man noch das letzte bisschen Gernehaben quetscht. Ich winke Kollegen und Bekannten. Dabei hat das Abschiednehmen viel früher begonnen.
Löcher im Alltag
Obwohl ich noch hier in Mannheim bin, wird die Distanz zwischen mir und allem Alltag seit Monaten größer. Alles um mich entfernt sich, wie ein Vogelschwarm, der am Horizont langsam immer kleiner wird, nur noch kaum sichtbare schwarze Punkte, die verschwinden, sich auflösen wie der Zucker im Kaffee. Ich schaue den Vögeln nach, barfuß in einem Feld scharf geköpfter Ähren, die kurzen Halme brechen unter mir. In allen Richtungen ist Himmel. Und in einer wartet Australien, Neuseeland, vielleicht Japan. Die Welt dreht sich und ich stehe still, warte ab, bis ich in ein Flugzeug steige.
Letztlich ist es nicht wichtig, dass es Australien geworden ist. Es spielt keine Rolle, in welche Länder wir reisen. Für ein Jahr stehen wir außerhalb der Zeit, und wir könnten überall sein. Wir kappen die Nabelschnur. Manchmal geht es nicht ohne den Schnitt.
Seit Monaten: Vorbereitungen
Seit Monaten räume ich aus. Ich schleppe Bücher aus der Wohnung, packe Säcke für die Altkleidersammlung, werfe Gewürzdosen in den Müll, die seit 2010 abgelaufen sind, und wundere mich über die Relikte, die ich in meinen Schränken finde: Disketten und Filmdöschen, verdrehte Kabel, Muscheln, Fotos, Rechnungen, Münzen, eine Hallogenleuchte, Murmeln, Kassetten, Schmierpapier, Steine, vergilbte Lexika, Schmuck, den ich nie trage. Ich räume sechsunddreißig Jahre Leben auf.
Alles, was ich nach Australien mitnehme, passt in einen Rucksack. Ich schneide mich aus meinem Leben heraus und stolpere über die Löcher.
Vielleicht ist es so ein Nachkriegskindergenerationending, das das Entrümpeln so schwierig macht. Ich fühle mich den Dingen verpflichtet, als wäre ich der letzte Mensch auf der Welt, der in einer Enklave der Überlebenden unser kulturelles Erbe verwaltet. Der Krempel krallt sich fest wie eine Zecke und streitet einen stummen Streit: »Wenn du morgen dringend ein paar Muscheln brauchst, was dann? Die Filmdöschen sind doch nützlich, um kleine Dinge aufzubewahren.« Die Lexika empören sich: »Ich bin historisch. Wenn das Internet ausfällt, stehst du dumm da.« Die Kabel legen sich wie eine Würgeschlange um meinen Hals: »Irgendwo liegt das Gerät, das du ohne uns nicht mehr benutzen kannst.« »All die Erinnerungen!« »Verschwendung!« »So eins wie mich wirst du nie wieder finden.«
Ausrüsten, testen, wiegen
In den Rucksack darf nur das Notwendigste. Wir wandern als erstes den Bibbulmun, einen rund 1.000 Kilometer langen Fernwanderweg im Westen Australiens. Jedes Kilo zu viel drückt auf Schultern und Hüfte. In den Monaten, in denen ich aussortiere, kümmert sich mein Freund um die Ausrüstung: Wir bestellen ein leichteres Zelt, einen neuen Kocher, eine Powerbank, Infobücher zum Trail, die wir auseinanderschneiden, um die Seiten einzuscannen, Kartenmaterial, wir buchen einen Outdoor-Erste-Hilfe-Kurs, mein Freund lädt eine Erste-Hilfe-App auf sein Handy. »Bleiben Sie ruhig!«, sagt die App beim Einschalten. Das erinnert mich an Douglas Adams‘ »Per Anhalter durch die Galaxis«. In dem galaktischen Reiseführer, den er erdacht hat, ist auf dem Umschlag »Keine Panik« zu lesen. Wenn ich auf meiner Reise nervös werde, weil die Fluggesellschaft unser Gepäck verloren hat, uns das Wasser ausgeht, ein Sturm an den Zeltstangen rüttelt, werde ich die App einschalten.
Ich wiege sämliches Equipment. Wandersocken: siebzig Gramm. Daunenjacke: dreihundertfünfundvierzig Gramm. Stirnlampe: vierundachtzig Gramm. Beim Handtuch kann ich noch rund 40 Gramm einsparen. Ich schneide es durch. Ein halbes Handtuch reicht auch.
Wir testen das neue Equipment auf Mallorca, organisieren unsere Abschiedsparty, suchen eine passende Auslandskrankenversicherung, stellen einen Nachsendeauftrag, kündigen Bahncard & Co. und scannen wichtige Dokumente ein, melden uns ab.
Die Schwere der Schritte
Viele fragen, wieso wir wandern. Warum wir es uns nicht bequemer machen, einen Camper mieten oder zumindest ein Auto. Wieso wir fast ein Jahr lang jeden Tag das gleiche machen wollen. Warum wir bei Nieselregeln draußen sind oder bei brütender Hitze. Warum wir uns von den Schnaken stechen lassen. Uns Blasen laufen. Stinken nach Schweiß und Dreck und Tütensuppe.
Ich könnte antworten: Weil wir nachts im Licht der Milchstraße duschen, weil die Berge, das Meer, weil weg von allem, weil Ruhe und wir ganz allein. Aber das stimmt nicht. Ich komme nur beim Wandern ganz nah an das Nichtstun heran. Wie der Hase, der die Hälfte der Strecke rennt und dann wieder die Hälfte und so immer weiter, bis er auf seinen Läufen zusammenbricht. Nichts ist lebendig dauerhaft erreichbar. Nichtstun ist das Schwerste, laufen heißt stoppen: die Pläne, die Zweifel, die Suche. Der Hase setzt sich und mümmelt Grashalme.
Es bleibt oft gar nichts außer schwerer Atem, Hunger und müde Glieder. Das reicht. Ein Schritt nach dem andern. Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde. Es ist Zeit loszugehen.
Liebe Jana,
das hört sich sehr tiefgründig an. Aber das Entrümpeln befreit auch ungemein und ich habe schon von mehreren Menschen gelesen, die nach der Auszeit weiterhin sehr minimalistisch gelebt haben.
Ich wünsche dir – euch – eine wunderschöne Zeit und hoffe, hier regelmäßig daran teilhaben zu können.
Bleibt gesund!
Gruß
Aurora
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Liebe Aurora, danke für die guten Wünsche. Ich werde natürlich berichten!
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Hallo Jana, ein sehr sehr schöner Text – der einerseits lustig aber anderseits sehr zum Nachdenken anregt. Was ist wirklich wichtig? Ich bin sehr stolz auf Dich, dass Du das durchziehst. Ich wünsche Dir, dass Du das „Weil“ findest – suchen musst Du bestimmt nicht – es wird einfach so bei Dir auftauchen.
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Lieber Jürgen, vielen Dank!
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