Streckenwanderung von Schriesheim über Oberflockenbach nach Weinheim
Ich gebe auf. Nichts passt, keine Route im Odenwald, kein Streckenvorschlag in der Pfalz. Zu lang, zu steil, schon gewandert, keine Einkehrmöglichkeiten, nicht an den ÖPNV angebunden, zu wenig Schatten, zu weit von Mannheim entfernt, keine passende Übernachtung. Die Wandertour, die mir vorschwebt, gibt es nicht. Ich bin mir sicher, dass bald der Geist der eierlegenden Wollmilchsau vor mir erscheint und mich auslacht.
Vielleicht sollte ich noch mal die Wanderführer durchblättern? Oder es weiter südlich versuchen? Ich könnte etwas übersehen haben. Seit Stunden durchforste ich das Netz. Meine Augen brennen. Auf dem Bildschirm reiht sich ein Browser-Tab an den nächsten – alles Karteileichen meiner erfolglosen Recherche. Ich fühle mich wie ein Versager. Der Lüfter des Computers springt an und röchelt wie ein asthmatisches Kaninchen.
Ich klappe den Rechner zu und lehne mich zurück. Die Gelenke in meinen Schultern knirschen. Ich schließe die Augen und träume von der perfekten Wanderung, vom All-inclusive-Paket der Premiumwanderwege: idiotensichere Beschilderung, Gasthäuser, in denen es Apfelkuchen und Pommes gibt, naturbelassene Pfade, alte Gemäuer und Infotafeln. Keine Angst, plötzlich vor einem reißenden Fluss ohne Brücke zu stehen oder es nicht mehr vor Einbruch der Dunkelheit in die Zivilisation zu schaffen. Ich brauche nicht jedes Wochenende ein Abenteuer – schon gar nicht, wenn mein Onkel und meine Tante mitwandern. Ich will sie nicht aus einem Felsspalt bergen müssen. Oder für einen schweren Sonnenbrand auf der hohen Stirn meines Onkels verantwortlich sein. Und wahrscheinlich sind die beiden auch nicht erpicht darauf, in einer Höhle zu biwakieren. Wenn Mitwanderer ins Spiel kommen, wird die Tourenauswahl zur Expeditionsplanung.
Ideal wären um die zwanzig Kilometer
Ich brauche eine andere Taktik – die einschlägigen Apps und Tourismusseiten sind keine Hilfe. Die Strecken, die ich finde, sind entweder nur ein Spaziergang oder fast ein Marathon. Zwanzig bis fünfundzwanzig Kilometer verteilt auf zwei Tage wären ideal – mit einem Gasthaus in der Mitte, in dem nicht nur Apfelkuchen und Pommes auf der Karte stehen, und einem Café für die Einkehr zwischendurch.
Mir dämmert es: Ich muss selbst ran, mir einen eigenen Wanderweg zimmern. Kein Fertigbausatz, sondern maßgeschneidert.
Ein paar Tage später habe ich ein Gasthaus in Oberflockenbach im Odenwald gebucht. Den Wanderweg werde ich drumherum basteln. Startpunkt: Schriesheim. Zieleinlauf: Weinheim, Fachwerkhäuschenpanorama inklusive.
Ich schalte mein Handy an und schiebe die Wanderkarte in meiner App hin- und her. Ich zoome in den Odenwald. Wege, Hütten und Aussichtspunkte tauchen auf. Mir wird heiß. schon wieder so viel Auswahl! Unendlich viele Pfade, Bäche, Burgen, Kreuzungen und Abzweigungen. Ich wische nervös im Odenwald herum. Wo ist der Auserwählte? Wer ist die Schönste im ganzen Land?
Tipp aus der Wander-Community
Bevor all die Wege sich wie ein Gitter um meinen Verstand legen, befrage ich das Internet. Ich bin Mitglied in mehreren Wandergruppen in den sozialen Netzwerken. Die Menschen dort sind kompetent. Sie wissen, wie man im Wald scheißt. Wie man Blasen vorbeugt. Ob ein Berg schon schneefrei ist. Ich schildere den hilfsbereiten Wanderexperten mein Problem. Und einer von ihnen hat eine Idee: Einige Wander-Apps zeigen an, was anderen in der Gegen gut gefallen hat, also Wasserfälle, Brunnen, Lichtungen und so weiter. Der Rest ist nur noch Fleißarbeit.
Ich versuche, so viel Attraktion wie möglich in die Strecke zu quetschen. Ein Bach im Buchenwald? Gerne, doch! Die Spatschlucht? Her damit! Noch ein paar Bergbauüberbleibsel? Passt! Ah, hier hat es noch Mammutbäume und einen Schlosspark. Perfekt! Mein erster selbstgebastelter Wanderweg ist fertig. Ich nenne ihn: Schrieobflowei – Schriesheim, Oberflockenbach, Weinheim.
Dann sind wir unterwegs: mein Freund, Tante, Onkel und ich. Als mich der Onkel fragt, ob ich die Route schon mal gegangen bin, schüttele ich den Kopf und frage mich, ob ich einen schwerwiegenden Fehler gemacht habe. Ob ich zu übermütig war. Ob ich den Weg hätte probelaufen müssen. Ich schiebe den Gedanken an Wanderkatastrophen beseite.
Wir steigen den Weinberg unterhalb der Schriesheimer Strahlenburg nach oben. Spitz wie eine Nadel stößt weit entfernt der Mannheimer Fernsehturm in den Himmel. Ich zeige auf den Horizont. Das ist das Müllheizkraftwerk von Mannheim, sage ich und bin ein bisschen stolz auf meine Ortskenntnis. Und da hinten seht ihr das Atomkraftwerk in Biblis. Erst als meine Tante lacht, fällt mir auf, dass Industriebauten normalerweise nicht zu den Motiven gehören, mit denen man auf einer Wanderung prahlt.
Nach fünfzehn Minuten endet unser Pfad an einer Hangmauer. Sackgasse. Die Wand vor uns ist mehr als mannshoch. Vielleicht gab es dort mal eine Leiter, jetzt stecken im Erdreich nur noch Wurzeln und Steine. Ich fühle wie ein Kind, das seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Können wir hochklettern?, fragt mein Onkel. Ich habe keine Zeit zu antworten. Er setzt er ein Bein an den Hang und zieht sich nach oben, als wüsste sein Körper noch genau, dass er von Menschenaffen in den Steppen Afrikas abstammt. Wir folgen.
Zwergenmützen und Dinkelkaffee
Der Rest der Wanderung verläuft ohne Zwischenfälle. Nur ab und zu müssen wir umkehren und ein paar Meter zurücklaufen, weil ich die Richtung falsch eingeschätzt habe.
Als wir am Abend im Gasthof »Zur Rose« in Oberflockenbach sitzen, den warmen Sommerwind genießen und die Füße unter den Tisch strecken, fühle ich mich, als hätte ich den ersten Teil eines schwierigen Werks vollendet. Die Bedienung bringt die Pommes. Wir sprechen über Freundschaft und das Leben, über das Älterwerden und die Vorzüge des Odenwalds – und darüber, dass ich für den nächsten Tag noch ein Café auf der Strecke untergebracht habe.
Es liegt nur etwa eine Stunde Fußmarsch von Oberflockenbach entfernt in Ritschweier. Im Café-Garten stehen Bänke und Stühle. Wir wählen den Platz unter einem großen Sonnenschirm und studieren die Karte vom Hof Rhiannon, dem »Zentrum für ganzheitliche Balance«. Wer will, bekommt eine Spruchkarte zum Getränk, in den »Kaffee des kleinen Volkes« gehört eine »Zwergenmütze voll Likör«. In dem Laden neben dem Café hocken Buddhas, Kobolde und Engel. Man kann heilende Steine kaufen und Bücher mit Titeln wie »Das Mysterium des Mandalas«. Den Klodeckel soll man aus energetischen Gründen unbedingt schließen. Der Eisbecher meiner Tante ist mit einem Blatt Rucola garniert.
Obwohl mir all das etwas seltsam erscheint und ich weder an die Macht der Kristalle noch an himmlische Wesen glaube, passt in diesem Moment alles zusammen. Es war eine perfekte Tour mit Burg und Müllheizkraftwerk, Hangbesteigung und Schluchtenquerung, mit Pommes, Zwergenmützen und Dinkelkaffee und mit drei wunderbaren Menschen. Und das schafft noch nicht mal ein Premiumwanderweg.
Odenwald: Von Schriesheim über Oberflockenbach nach Weinheim
Land: Deutschland (Baden-Württemberg)
Anreise: Schriesheim ist von Mannheim aus mit der Straßenbahn erreichbar (Linie 5), Weinheim hat eine Zuganbindung.
Gehzeit: Rund sechseinhalb Stunden für etwa 22 Kilometer (20. und 21. Juni 2020)
Herausforderungen: Die Wanderung hat einige ziemlich steile Passagen; an einigen Stellen ist es nicht einfach zu erkennen, wo es nun weitergeht (es gibt sehr viele Kreuzungen). Die Route läuft in weiten Teilen auf Wald- und Landwirtschaftswegen; in den Dörfern und von Oberflockenbach nach Ritschweier geht es auch ein wenig über Teer. Sportliche Wanderer können die Tour an einem Tag laufen.
Hier sind die GPS-Daten für euch: Schriesheim – Oberflockenbach – Weinheim
Höhepunkte: Spatschlucht, Steinberg, Grab von Antonio Cestaro, Biergarten im Gasthof »Zur Rose« (dort kann man auch übernachten), Erdhummelnnest, Café Hof Rhiannon in Ritschweier, Mammutbäume, Schlosspark und Marktplatz in Weinheim
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