Normalerweise würde ich nichts essen, was aus dem Anus eines Insekts tropft. Exkremente von Gliederfüßlern gehören nicht auf meinen Speiseplan. Aber Honig ist ja auch nur so eine Art Bienenkotze.
Müsliriegel werden rationiert
Außerdem ist das Essen knapp auf dem Travers Sabine Track: Statt sieben werden mein Freund und ich acht Tage für die Rundtour brauchen. Einen Tag haben wir in der Lakehead-Hütte ausgeharrt und zugesehen, wie der Himmel immer dunkler und der Regen vom Gras verschluckt wurde. Einen weiteren Tag haben wir für einen ungeplanten Abstecher zum Blue Lake gebraucht.
Der Travers Sabine Circuit ist einer dieser Wege, auf dem ich jedes noch so kurze ebene Teilstück mit einem leisen inneren Lobgesang begrüße, und beginne, Aggressionen gegenüber Steinen und Baumwurzeln zu entwickeln, die mein Fortkommen doch erheblich behindern.
Anderthalb Tage lang schleppe ich mich den Berg bis zum Pass hinauf, auf knapp 1.800 Meter. Der Abstecher zum Blue Lake ist nicht besser. Ein Ranger hatte uns erklärt, wir könnten, sobald wir an der West Sabine Hut ankämen, noch am gleichen Tag schnell einen kurzen Ausflug machen, in zwei Stunden sei man oben, nach anderthalb weiteren wieder unten.
Diese Angabe ist für mich nur so erklärbar: Wir sehen mit unseren Rucksäcken, den rissigen Wanderstiefeln, dem mittlerweile rund sieben Zentimeter langen Rauschebart meines Freundes, den Wanderstöcken und unseren braungebrannten Gesichtern unglaublich hartgesotten und sportlich aus. Ich bin es aber nicht.
Maximale Geschwindigkeit: vier Kilometer pro Stunde
Trotz mittlerweile rund fünfmonatigen Dauerwanderns komme ich nach wie vor mit maximal vier Kilometern pro Stunde voran. Und das nur mit leichtem Rucksack, auf einer Strecke, die eben wie ein Fußballplatz ist, wenn ich gute Laune habe und die Temperatur zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Grad liegt. Kommen Berge ins Spiel, reduziert das meine Geschwindigkeit enorm. Sie verhält sich umgekehrt proportional zur Steigung des Berges – das gilt sowohl für den Auf- als auch für den Abstieg.
Die Angaben auf den Schildern des Department of Conservation erweisen sich als realistischer als die des Rangers: sieben Stunden zum Blue Lake hin und zurück.
Am Ufer des Blue Lake
Nach etwa dreieinhalb Stunden und rund 500 Höhenmetern sitzen wir am Ufer eines blauen Naturwunders. Im See leuchten grüne Algen so hell, als wären sie atomar verseucht.
Der Blue Lake ist angeblich der klarste See der Welt, mit Sichtweiten unter Wasser von mehr als siebzig Metern.
Nach den Höhentorturen über den Pass und zum See fühlen sich meine Oberschenkel an, als hätte jemand Beton darin gelagert. Ich stinke, und eine meiner Zehen ist wundgelaufen. Beim Bergablaufen stößt das Leder meines Schuhs gegen die Haut. Ich umwickele den gesamten Zeh mit einem Blasenpflaster. Die Stiche der Sandmücken habe ich längst blutig gekratzt, was sie nicht davon abhält weiter zu jucken. Mein Körper ist schlapp wie ein totes Kaninchen; eine Erkältung ist im Anmarsch, die erst nach der Wanderung so richtig zuschlagen wird. Kurzum: Ich befinde mich in einem erbarmungswürdigen Zustand. Sollten uns jetzt noch die Lebensmittel ausgehen, bekomme ich schlechte Laune. Also rationiere ich meine Müsliriegel, und aus einem Rest Kartoffelpüreepulver und einer Portion Instantpilzrisotto basteln wir ein zusätzliches Abendessen.
Potenzielle neue Nahrungsquellen sollte man in so einer Situation auf jeden Fall ausloten, selbst wenn es sich um die Ausscheidungdprodukte von Krabbeltieren hält. Rüdiger Nehberg wäre stolz auf mich. Honigtau ist mir in jedem Fall lieber als irgendwelche Würmer oder die Aale, die wir an der Sabine Hut am Abend mit Taschenlampen an die Wasseroberfläche des Sees gelockt haben.
Der Honigtau, ein glänzender Tropfen, hängt an einem hellen, fast durchsichtigen Faden auf schwarz gefärbter Baumrinde. Wie ein weißes Haar streckt er sich mir entgegen. Um mich schweben ein paar Wespen, die ebenfalls gerne am Hinterteil von Schildläusen lecken. Ich halte den Zeigefinger an den Tropfen, der sich sofort auf meiner Haut niederlässt.
Das Rätsel der pechschwarzen Bäume
Wochenlang hatten mein Freund und ich gerätselt, was es mit den pechschwarzen Bäumen auf sich hat. Die Feuerhypothese hatten wir schnell wieder verworfen, denn unter ihrer schwarzen Haut wirkten die Bäume und Sträucher Neuseelands ganz lebendig. Das schwarze Zeug roch auch nicht nach Rauch, sondern eher erdig und feucht. Wir tippten auf einen Pilz, wahrscheinlich eingeschleppt, der nach und nach die neuseeländische Pflanzenwelt bei lebendigem Leibe verdaut.
Auf dem Travers Sabine Track sind sie wieder, diese schwarzen Bäume, zumindest dann, wenn wir durch Wald laufen.
Eine Rangerin in einer der Hütten auf dem Track hatte uns aufgeklärt. Der weiße Faden sei der verlängerte Anus eines Insekts, die schwarze Hülle der Bäume in der Tat ein Pilz, der aber den Pflanzen nicht schade.
Die Schildläuse ernähren sich vom Saft der Bäume, den überschüssigen Zucker scheiden sie aus. Wird der weder von anderen Insekten noch von Wanderern weggeschlabbert, gedeiht der Pilz wiederum besonders gut. Die Schildlaus sieht man, bis auf ihr monströses Hinterteil, nicht. Zu versteckt haust das winzige Tierchen im Baumstamm.
Ich stecke den Zeigefinger in den Mund und schmecke einen Hauch Süße. Lecker Schildlauskacke, denke ich.
Ich will nicht wissen was ich esse, wenn ich verzweifelt bin.
Nelson Lakes: Travers Sabine Circuit mit Abstecher zum Blue Lake
Land: Neuseeland (Südinsel)
Anreise: Mit dem Intercity-Bus zur Kawatiri-Kreuzung, von dort aus sind wir per Anhalter nach St. Arnaud gefahren. Auf dem Rückweg hat uns jemand bis Murchison mitgenommen, dort ging es dann am nächsten Tag für uns mit dem Intercity-Bus zurück Richtung Westküste.
Gehzeit: sieben Tage für achtzig Kilometer (9. Januar bis 16. Januar 2019, ein Pausentag); zum Blue Lake und zurück sind es weitere vierzehn Kilometer (ein Tag)
Herausforderungen: Der Anstieg zum Travers Saddle ist teilweise sehr steil, gleiches gilt für den Abstieg. Das letzte Stück zum Saddle liegt oberhalb der Baumgrenze, entsprechend harsch kann das Wetter dort sein.
Weite Teile des Weges sind von Wurzelwerk überzogen und man kommt nur mühsam voran. Man quert außerdem mehrere Geröllfelder. Einige Abschnitte führen sehr nah an steilen Hängen entlang, wer abrutscht landet direkt im Fluss.
Die Strecke ist gut markiert, an einigen Stellen, besonders im Wald, muss man allerdings Ausschau nach dem nächsten orangefarbenen Dreieck halten.
In St. Arnaud gibt es nur einen kleinen, sehr teuren Shop. Man sollte seinen Proviant also unbedingt vorher einkaufen. Wir haben das in Westport erledigt.
Höhepunkte: der Ausblick vom Travers Saddle, Aale im Rotoroa Lake beobachten, schwarze Schwäne im Sonnenuntergang, Besuche von Langbeinschnäppern (South Island Robin), Blue Lake, Gebirgsbäche, Instantpudding in der John Tait Hut (zubereitet mit Milchpulver), Wasserfälle, Fisch in einer Schlucht
Gibt es ein Foto von dem blauen See?
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Klaro, der See wurde mehrfach abgelichtet: https://m.facebook.com/story.php?story_fbid=544619886045369&id=219827381857956
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