Mannheim: Wo die dicken Pelztiere wohnen

Reißinsel: Stadtwandern in einem Naturschutzgebiet hinter dem Hauptbahnhof – Teil 1 der Serie »Mannheimer Wanderwege«

Es gibt in Mannheim viele dicke Kinder, die Mütter mit grauen Gesichtern haben. Die Mütter kaufen den Kindern morgens beim Bäcker ein Teilchen oder eine Brezel und eine Caprisonne. Sie gönnen sich einen Kaffee im Pappbecher aus einem Automaten, der spauzt und schlürft wie ein lungenkranker Barista. Autoprolls gibt es in Mannheim auch. Ich hoffe, dass die Autoprolls nicht aus Versehen die dicken Kinder überfahren. Die können nicht so schnell ausweichen. War selbst ein dickes Kind. Ich weiß, dass das hart ist.

Normalerweise fahre ich zum Wandern am Wochenende in den Odenwald oder in die Pfalz. Dort sind keine dicken Kinder, nur Rentner und Cabriofahrer und Familien mit dünnen Kindern. Dann war Corona, und ich kam hier nicht mehr weg. Also wandern in Mannheim. Sollte doch machbar sein, irgendwie.

Raus, einfach nur raus

Während des Lockdowns wollte ich von zu Hause aus loslaufen. Ich habe meinen Freund etwas von Grüngürteln und Parks und vom Neckar erzählt. Er hat die Stirn gerunzelt.

Diese Geschichte handelt also von einer Wanderung an einem Ort, der nicht zum Wandern geeignet ist: Du kannst in Mannheim Schuhe kaufen, Shisha rauchen, den Wasserturm besichtigen und im Luisenpark flanieren, aber wandern kannst du dort nicht. Du kommst gut per Bus und Bahn in die Pfalz und in den Odenwald, aber wandern kannst du dort nicht. Du kannst den Autoprolls winken, aber wandern kannst du dort nicht.

An sonnigen Herbsttagen pilgern die Mannheimer Wandersleut’ hinaus aufs Land. Rentner rollen aus der Stadt – ein Exodus mit Rucksack, Stöcken und hochprozentigem Alkohol. Mittdreißiger testen ihre neue Wanderapp. Dünne Kinder sammeln Kastanien.

Ich nehme es meinem Freund nicht übel, dass er Mannheim als Wandergebiet so attraktiv findet wie eine Müllkippe. Mannheim ist ein Kumpel, den du liebhaben musst, der aber sein Leben nicht auf die Reihe kriegt. Der Kumpel hat einen schimmeligen Kühlschrank. In der Tür vom Kühlschrank steht saure Milch. Wenn du zu Besuch bist, musst du erst mal die leeren Crackerpackungen vom Sofa räumen. Manchmal findest du in der Sofaritze noch einen ganzen Cracker. Im Bad lebt eine zufriedene Kolonie Ohrenschleifer. Leben und Leben lassen. Der Kumpel fährt Skateboard, und abends liest er Sartre, und er hält sich irgendwie über Wasser. Das Hochhaus vom Kumpel ist potthässlich, aber wenn du drinsitzt, siehst du den Neckar und den Fernsehturm. Und er hat eine geheime Dachterrasse. Draußen fahren coole Kinder Skateboard und verticken Drogen, während das Nationaltheater Schiller spielt. Wir holen uns noch schnell einen Döner und trinken Craftbeer. Der Flaschensammler durchwühlt den Müll, und 2023 gibt es Bundesgartenschau.

Vom Bahnhofsviertel ins Naturschutzgebiet

Gegen die Reißinsel hatte mein Freund nichts. Der Wanderweg beginnt direkt hinter dem Mannheimer Hauptbahnhof, wo sich noch alles nach Stadt anfühlt. Im Minutentakt die Durchsagen, ein Prediger erzählt von Jesus, so laut, dass ich mir Sorgen um seine Stimmbänder mache: »Er liebt euch.« Vielleicht ist er erleuchtet. Mein Freund hält ihn für verrückt. Die Plakate, überall diese Plakate, und Menschen, die kleine Köfferchen hinter sich herziehen. Es riecht nach Abgasen, Gummiabrieb, Pommes und heißem Asphalt. Die Straßenbahn bimmelt.

Hinter dem Bahnhof liegt die Rheinpromenade: ein breites Stück Wiese, dann der Fluss in einem Korsett aus Beton. Papas joggen und schubsen ihren Nachwuchs vor sich her. Zweijährige trudeln auf Laufrädern, Pärchen picknicken. Der Mannheimer Stadtwald beginnt. Stéfanie de Beauharnais, einst Großherzogin von Baden, thront als schneeweiße Statue neben dem breiten Kiesweg. Die Arme hat sie vor dem Körper ineinandergelegt, wahrscheinlich weiß sie nicht, wohin damit. Zu ihrer Zeit gab es noch keine Caprisonne und deshalb auch weniger dicke Kinder. Jetzt würde sie sich wundern.

Die weiße Stéfanie lebt in einer Zwischenwelt, am Rande von Land und Wasser, zwischen City und Naturschutzgebiet, zwischen modrigen Rheinarmen und einer der verkehrsreichsten Wasserstraßen der Welt. Die Mannheimer Reißinsel ist ein Märchenwald, der sich in ein Industriegebiet verirrt hat. Es steht unentschieden zwischen Tankern und Gänsen.

Die Insel trägt den Namen eines Unternehmers. Carl Reiß hatte keine Kinder, also hat er die Insel und noch jede Menge anderer cooler Sachen der Stadt Mannheim vermacht.

Die Tanker reisen zum Meer und lassen nur Wellen zurück, auf denen die Gänse schunkeln wie angetrunkene Matrosen. Die Vögel zetern, sie hätten die Reißinsel lieber für sich. Ob die Gänse die Tanker für Riesenvögel halten? Reicht das alles hier für ein kleines Abenteuer? Für gezähmte ungezähmte Natur?

Nach und nach verzweigen sich die Wege, die Bäume stehen dichter, und der Altrhein windet sich wie ein freigelassenes Tier in die Freiheit. Ein verlassenes blaues Holzboot wartet auf einen Binnenschiffer. Der Rhein verwandelt sich in einen braun-grünen Wurm. Er tastet augenlos seine Umgebung ab und trägt auf seinem Rücken die Schiffe. Sie haben Container geladen, die ich so mag, weil sie aussehen wie bunte Bauklötzchen.

Auf der Reißinsel brüten im Frühjahr rund fünfzig verschiedene Vogelarten. Die Gänse sind nicht allein. Die Insel ist von März bis Juni gesperrt. Dann zieht das Federvieh seinen Nachwuchs groß und braucht Ruhe.

Die Radfahrer verschwinden. Baden ist verboten. Hunde sind verboten. Reiten ist verboten. Feuermachen und Lärm sind verboten. Rumgehen ist auf der Reißinsel erlaubt, solange ihr auf den Wegen bleibt. Der Verkehr säuselt wie ein weit entfernter Staubsauger.

Scherben aus Plastik und sterbende Bäume

Ein paar Gänse und ein Containerschiff reichen nicht, um es auf die Titelseite des »Lonely Planet« zu schaffen. Auf der anderen Seite des Flusses steht eine Fabrik, ein Schornstein zeigt auf die Sommerwolken. Am flachen Ufer ein Sandstrand, darauf graue und schwarze Muscheln, angespültes Wurzelholz und Kiesel. Gegenüber liegt Ludwigshafen. Mehr muss ich nicht sagen.

Die Reißinsel ist Gestrüpp, Sand, Bannwald und Weiden, die ihre Äste ins Wasser tunken. Am Gras klebt der Dreck, den der Rhein über die Ufer gespült hat. Bei Hochwasser steht die Insel unter Wasser. An den Wegrändern liegen Scherben aus Plastik. Wie Splitter plagen sie die Insel. Pilze fressen sich an sterbenden Bäumen satt. In Senken fault das Wasser, darin hängen klebrige Strähnen aus Algen, als hätte Neptun Haarausfall. Ein Paradies für Stechmücken, die sich auf alles stürzen, was nicht schnell genug laufen kann. Mal wieder ein Nachteil für dicke Kinder.

An Streuobstbäumen hängen kleine saure Äpfel. Ameisen bauen Straßen zwischen Wiesen. Dann taucht es auf: das wilde Leben. Die dicken Kinder wären außer sich. Ein fettes pelziges Tier watschelt durchs Gras: ein Nutria oder auch Sumpfbiber genannt. Es verzieht sich schnell ins Gebüsch, aber Mannheim, oh wunderbares Mannheim!

Manchmal sehe ich am Neckar Ratten, Kraniche, Kormorane und Kaninchen. Vom Luisenpark ziehen die Störche auf die Neckarwiesen und spießen Frösche auf, aber ein Nutria ist mir in Mannheim noch nie begegnet. Wahrscheinlich wissen die Autoprolls und die dicken Kinder nichts von den Nutrias, sonst wären sie alle längst auf der Reißinsel. Ich komme auf jeden Fall noch mal vorbei. Wo ein Nutria ist, ist auch ein Wanderweg.

Rundwanderung über die Mannheimer Reißinsel

Land: Deutschland (Baden-Württemberg)

Anreise: Der Mannheimer Stadtwald beginnt fast direkt hinter dem Mannheimer Hauptbahnhof. Er grenzt direkt an die Reißinsel an. Ihr könnt also eure Wanderung am Hauptbahnhof beginnen.

Gehzeit: rund drei Stunden für etwa 12 Kilometer (25. Juli 2020). Der verlinkte Track ist rund 11 Kilometer lang. Wenn ihr am Mannheimer Bahnhof startet, verlängert sich die Tour um etwa einen Kilometer.

Herausforderungen: Mit dem oben verlinkten GPS-Track standen wir am 25. Juli 2020 kurz vor Ende der Tour vor einem verschlossenen Tor. Um nicht den kompletten Weg zurücklaufen zu müssen, haben wir eine kleine Wiese überquert und einen Schleichweg genommen, um wieder auf einen der Hauptpfade im Stadtwald zu kommen.

Der Stadtwald ist von einem dichten Wegenetz durchzogen, die Orientierung ist nicht ganz leicht. Passieren kann euch dort nichts, aber wenn ihr nicht stundenlang umherirren wollt, solltet ihr zur Sicherheit euer Handy oder ein GPS-Gerät einpacken. Die Rundtour ist nicht ausgeschildert.

Die Wege sind alle flach und auch problemlos mit Turnschuhen begehbar.

Höhepunkte: Muscheln am Ufer, Gänse, Kaiserwörth-Pavillon, Ameisen, Streuobst, Rheintanker, Ruhe, Nutria

In den nächsten Teilen der Serie »Mannheimer Wanderwege« nehme ich euch mit in den Käfertaler Wald und nach Dossenheim.

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