Mikroabenteuer Zirkelwanderung – Teil 2 der Serie »Mannheimer Wanderwege«
Vor ein paar Tagen habe ich ein Wanderexperiment gewagt. In Zeiten des Lockdowns ist Kreativität gefragt, ansonsten besteht die Gefahr, dass ich mir aus Frust über die Pandemie sämliche Haare ausreiße oder anfange, aus abgeschnittenen Zehennägeln winzige Skulpturen zu bauen. Mein Freund hatte mir zu unserem Jahrestag einen »9-Punkte-Plan« gegen die Corona-Zermürbung geschenkt, darunter eine sogenannte Zirkelwanderung.
Die Idee dahinter ist simpel wie ein Spiegelei: Man läuft von zu Hause los und wandert dann in einem Umkreis von etwa einem Kilometer um seine Wohnstatt herum. Solche Aktivitäten nennt man in Wandererkreisen heutzutage Mikroabenteuer. Früher sagten wir dazu Spaziergang, aber Mikroabenteuer klingt natürlich aufregender.
Ich habe mir von der Wanderung nicht allzu viel erwartet. Im Umkreis von einem Kilometer sollte ich jede Hausecke kennen. Ich jogge regelmäßig den Neckar auf und ab, gehe zu Fuß einkaufen oder zum Zahnarzt und bin regelmäßig mit dem Fahrrad unterwegs, wenn ich in die Innenstadt will. Was sollte Mannheim schon den Buntsandsteinfelsen und den Weinbergen der Pfalz entgegenzustellen haben? Und außerdem: Städte sind kein Wanderareal, nur Beton und Asphalt statt Odenwaldaussichten und Wiesengrün. Begegnungen mit wilden Tieren waren keine zu erwarten, ebenso wenig Aussichtstürme oder Blütenpracht.
Routenplanung mit Hindernissen
Die Routenplanung gestaltet sich als schwierig. Mannheim durchziehen mit Rhein und Neckar gleich zwei Flüssen, die mit mehreren Nebenarmen zwischen dem Bauland mäandern. Exakt auf dem Einkilometerradius zu wandern, funktioniert nicht. Dafür bräuchten wir ein Schlauchboot. Wir müssen die Strecke so legen, dass wir über die Flüsse kommen. Ich picke wie eine Taube mit dem Finger auf dem Handydisplay herum, bis zwar keine kreiskrunde, aber immerhin eine vieleckige rund sechzehn Kilometer lange Wanderstrecke entsteht. Wir werden insgesamt sechs Brücken queren. Venedig kann einpacken.
Es ist viertel vor zehn, als wir aufbrechen, und frühlingshaft warm. Mein Freund und ich nehmen die Sache ernst, haben Tee, belegte Brote und Kuchen dabei. Wer weiß, wo wir landen. Vielleicht irren wir in Bälde am Rand der A6 umher oder finden uns in einer Unterführung von fetten Neckarratten umzingelt. Dann kaufe ich mich mit dem Kuchen frei.
Mit einem dumpfen Schnappen fällt die Haustür hinter mir zu. Die Wanderung beginnt – an diesem Tag ohne jede Anfahrt. Wir bewegen uns in nördlicher Richtung aus unserem Viertel hinaus. Die Mehrfamilienhäuser stehen eng aneinander, fast so, als wären sie zu einem großen städtischen Klumpen zusammengewachsen. Ihr Schatten liegt lang auf den Pflastern über den Schlaglöchern. Einige der Häuser tragen eine Backsteinfront, wie sie in der Neckarstadt häufig zu sehen ist. Unleserliche Graffitischmierereien bedecken Hauswände, von denen der Putz bröckelt. Corona-Masken liegen auf dem Bürgersteig. Hinter den Türen und Garagentoren müssen sich Dramen abspielen. Die Neckarstadt ist kein Hochglanzareal. Nur auf den Dächern zwitschern die Stadtvögel, als hätten sie ein paar Gramm Ecstasy geschluckt.
Wir sind erst wenige Minuten unterwegs, als mein Freund sich verwundert umsieht.
»Hier war ich noch nie«, sagt er.
Er hat recht. Wir flanieren durch eine ruhige Wohnstraße, die ich noch nie durchquert habe, obwohl sie in unmittelbarer Nachbarschaft zu unserer Wohnung liegt. Auf eimal komme ich mir vor wie ein Entdecker in einem unbekannten Land, der nur ab und zu am Himmel ein paar der Gestirne sieht, die ihm Orientierung geben. Der Satz »Hier war ich noch nie« wird an diesem Tag noch mehrfach fallen. Der Lockdown verkleinert unsere Welt so sehr, dass sie wieder groß wird.
Im Nachhinein gebe ich zu: Ich habe Mannheim mal wieder unterschätzt. Die Stadt ist abwechslungsreich wie eine Patchwork-Decke. Spaziergänger fallen aus dem Herzogenriedpark in die Hochhaussiedlung, vom Marktplatz stolpern sie direkt ins türkische Viertel »Little Istanbul« mit seinen Brautmodengeschäften, Juwelieren, Pide- und Falafellädenn und den Bäckereien, in deren Schaufenstern sich Baklava und Fladenbrote türmen. Alles ist ein herrliches Durch-, Mit- und Nebeneinander – immer ein bisschen vermüllt, aber bunt wie eine Blumenwiese.
Stahlpanorama am Industriehafen
Wir folgen exakt der geplanten Route auf unserem Handy, entdecken Bäckereien und Vorgärten und laufen in ein Industriegebiet ein. Die Diffenébrücke überspannt einen Altrheinarm, an dem der Industriehafen Mannheims liegt. In die Luft ragen riesige Stahlarme, die die Brücke bei Bedarf nach oben heben. Links reckt sich der Monte Scherbelino in die Höhe, ein grasbewachsener Schuttberg, auf dessen Hang eine Photovoltaikanlagen glitzert. Am anderen Ufer zieht sich ein Industriepanoramaam den Fluss entlang, das wie ein feinmechanisches Uhrwerk eine eigene Schönheit entfaltet: Silos, Kräne, Schornsteine und Bürobauten. Ich genieße den Ausblick vor dem strahlend blauen Himmel und verstehe, dass ich die Stadt, in der ich seit rund zehn Jahren lebe, immer noch nicht kenne. Ein Lkw donnert vorbei, und die Brücke vibriert.
Nur kurze Zeit später betreten wir die Friesenheimer Insel, und die Landschaft ändert sich grundlegend. Wir kommen in eine Kleingartenanlage, in der die Hobbygärtner Bäume schneiden, am Rasen zupfen oder nachdenklich über ihr Grundstück wandeln. Hunde bellen und knurren hinter den Zäunen der Parzellen. Auf den Wiesen leuchten erste Krokusse. Am Horizont hat sich die BASF wie eine riesige Raumschiffwerft am Rhein ausgebreitet.
Auf einer Stromleitung über uns zetert ein Vogel mit schwarzem Gefieder, das an den Flügeln grünlich schimmert und mit weißen Tupfen und Linien durchzogen ist. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche, nehme mit der App BirdNet seinen Gesang auf und starte die Analyse. Die App ist sich nicht sicher: Es könnte ein Star sein. Wir sind aus dem Häuschen. Einen Star haben wir noch nicht gesehen.
Die Entdeckungsreise geht weiter. Wir laufen eine Weile auf bekanntem Terrain – unserer Joggingstrecke am Neckar, queren am Stadtarchiv die Brücke in den Jungbusch. Das Viertel ist Partymeile, Problembezirk und Hipster-Location in einem. In den alten Hafengebäuden sind mittlerweile schicke Wohnungen mit Blick auf den Kanal untergebracht. Die Popakademie wirkt wie ein Understatement, ein sachliches Schmuckstück aus schlichtem Kupfer. Ein Mann und eine Frau – beide etwa Mitte zwanzig – haben sich zum Fotoshooting am Kai verabredet. Die Industriebauten im Hintergrund bilden die perfekte Kulisse für ihr langes blondes Haar.
Wir machen eine Pause. Mein Freund schenkt Tee ein. Von den Bänken am Ufer aus beobachten wir eine Frau und ihren etwa vier Jahre alten Sohn. Beide werfen etwas ins Wasser. Aus ihrer Plastiktüte segeln weiße Stück Richtung Kanal. Es könnte Brot sein
»Ob sie Enten füttern?«, frage ich.
Aber die Enten im Kanal würdigen das dahingeworfene Mahl keines Blickes. Still ziehen sie weiter auf dem grün-braunen Wasser umher. Auf der anderen Seite entlädt ein Bagger ein Schiff. Die Brotscheiben schwimmen wie Papierboote zwischen Stöcken und Unrat, den das letzte Hochwasser angespült hat, und versinken langsam. Dann taucht etwas aus dem Wasser auf.
»Doch eine Ente«, murmele ich. Wir sehen weiter den Spaziergängern zu, die am Kai entlangflanieren.
Ein Pelztier im Kanal
Mir fällt auf, dass das Tier für eine Ente ziemlich tief im Wasser liegt. Und Fell scheint es auch zu haben. Plötzlich hält uns nichts mehr auf der Bank. Mein Freund packt die Thermoskanne ein, und wir spurten zur Kanalbrücke, um einen genaueren Blick auf das Treiben im Wasser zu werfen. Ich lehne mich über das Geländer. Unten im Wasser zwischen einem Koffer und einem alten Schuh schwimmt etwas: ein Nutria – auch Biberratte genannt. Das rundliche Tier saugt gierig eine Brotscheibe nach der anderen auf (Video siehe unten), auch wenn ich mir sicher bin, dass Weißbrot für Nutrias keine empfehlenswerte Kost ist. Es ernährt sich normalerweise von Dingen wie Wasserpflanzen, Blättern oder Würmern.
Wir beobachten das Nutria eine Weile. Auf einer Wanderung um die Mannheimer Reißinsel hatte ich schon mal ein Nutria gesehen. Aber die Reißinsel ist Naturschutzgebiet. Mitten in der Stadt habe ich außer Hunden, Katzen, Kaninchen und den Neckarratten keine Pelztiere erwartet.
Als wir etwa eine halbe Stunde später in der Mannheimer Fußgängerzone auf eine Eisdiele stoßen, die – trotz Lockdown – Bällchen zum Mitnehmen verkauft, ist unser Glück perfekt. Schicht für Schicht schlecke ich von meinem Stracciatella-Eis. Eine Straßenbahn bimmelt. Ich bin selig – ein Wanderabenteuer vor der Haustür. Wer hätte das gedacht!
Zirkelwanderung in Mannheim
Land: Deutschland (Baden-Württemberg)
Anreise: Die Wanderung lässt sich fast überall in der Mannheimer Innenstadt beginnen, die ihr zu Fuß vom Mannheimer Hauptbahnhof schnell erreicht.
Gehzeit: Etwa dreieinhalb Stunden für knapp fünfzehn Kilometer (20. Februar 2021). Da ihr nicht von mir zu Hause aus loslauft, ist die Wanderung rund ein bis zwei Kilometer kürzer.
Herausforderungen: Die Route folgt verständlicherweise keiner markierten Wanderstrecke. Ihr braucht also die GPS-Daten, um die gleiche Tour zu machen wie ich. Die Daten könnt ihr unten herunterladen.
Höhepunkte: Diffenébrücke, Kleingartenanlage, Vogel (Star?), Kai im Jungbusch, Nutria, Eis in der Innenstadt, Neckarpromenade
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