Remstal: Fünfzig Kilometer auf zwei Füßen

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Erfahrungsbericht über eine Zwölf-Stunden-Wanderung

Ich schaue hinunter auf meine Fußnägel und bin zufrieden. So zufrieden, wie man mit Füßen eben sein kann. Der Nagel vom kleinen Zeh sitzt wie ein verrutschtes Platzdeckchen auf einem Fingerhut aus rosa Fleisch. Füße sind wichtig, Zehen sind wichtig. Alles in Ordnung. Eine lustige Truppe von Fleischzwergen, regiert von ihrem großen Häuptling. Tapfere Indianer. Ich hebe die Indianertruppe an, setze sie auf dem Waschbeckenrand ab und balanciere einbeinig, um die Nagelschere anzusetzen. Die Truppen müssen gerüstet sein.

Packliste: Fruchtgummis und Blastenpflaster

Dann schreibe ich eine Packliste und gehe einkaufen. Meine Vorbereitung für die Fünfzig-Kilometer-Wanderung besteht im Wesentlichen aus einer sorgfältigen Pediküre und zwei Packungen Fruchtgummis. Im Geschäft werfe ich Schlümpfe und eine rosafarbene Packung mit Einhorn drauf in den Einkaufswagen. In der Einhornpackung stecken saure Sterne und Feen in verschiedenen Farben. Ich male mir aus, wie ich alle paar Kilometer einem Schlumpf den Kopf abbeiße. Nach jeder Etappe dann noch ein paar Feen zur Belohnung hinterher. Zucker gegen mentale Ermüdung lautet meine Ultrawanderstrategie.

Im Badezimmer wühle ich nach Blasenpflastern und Sonnenschutz. Powerbank und Magnesiumtabletten liegen bereit.

Ich erinnere mich an all die längeren Touren, die ich gemacht habe: 28 Kilometer im Schwarzwald, weil ich noch zur Unterkunft musste. Rund 32 Kilometer in den Vogesen, weil mein Freund und ich uns verlaufen hatten. Irgendwann brennen die Fußsohlen und es zieht in den Leisten. Aber irgendwie bin ich immer angekommen.

Farbenfrohe Wanderoutfits

Am Tag der Schlacht klingelt der Wecker um halb sechs. Mein Freund und ich werfen uns in unser Wanderoutfit, schütten ein Heißgetränk hinunter und setzen uns ins Auto nach Schwäbisch Gmünd. Der Himmel blitzt wie blankgeputzt.

Als wir in der kleinen Stadt einfahren, laufen die ersten Wanderer Richtung Stadtpark. Es sieht aus, als hätte ein Outdoor-Austatter zur Modenschau eingeladen. Wanderer tragen pink, quietschgelb, schlumpfblau, hellgrün, orange, lila und andere Farben. Die Wandererhorde ähnelt menschlichem Konfetti. Ich komme mir in meiner schwarzen Jogginghose, meinem schwarzen Hoodie und meinem hellgrünen T-Shirt underdessed vor.

Ich bin kein besonders schneller Wanderer, aber mein Freund und ich wollen die Fünfzig-Kilometer-Strecke in den vorgesehenen zwölf Stunden hinter uns bringen. Uns ist klar, dass wir gegen Ende immer langsamer werden werden. Also lautet unsere simple wie geniale Taktik: Am Anfang möglichst schnell laufen.

Wir folgen der Konfetti-Truppe Richtung Start. Das Congress-Centrum ist gefüllt wie der Mannheimer Bahnhof zur Rushhour. Überall Rucksäcke, Wanderschuhe, ein paar Stöcke. Die meisten Wanderer rank und schlank, einige tragen Embleme vorangegangener Mega- und Mammutmärsche am Rucksack. Wir holen unsere Startutensilien ab, erhalten eine Karte, eine Streckenübersicht, die man sich um den Hals hängen kann und Verzehrbons im Wert von fünfzehn Euro (für die Teilnahme am Event hatte ich pro Person dreißig Euro bezahlt).

Zwischen den Konfetti-Wanderern tanzt ein Mensch im Bienenkostüm. Ich will ein Foto von mir und der Biene, aber zuerst brauchen wir Kaffee. Wir tauschen Verzehrbons gegen zwei Tassen und ich fühle mich, als hätte ich ein illegales Doping-Mittel genommen. Ich verzichte seit Jahren weitgehend auf Kaffee und bin auf Tee und Carokaffee umgestiegen. An diesem Tag mache ich eine Ausnahme. Bestimmt haben alle Kaffee getrunken, ich will nicht im Nachteil sein. Nicht dass ich beim Wandererwettrüsten das Nachsehen habe. Ich schreibe meiner Familie in unserer What’s App-Gruppe und bitte um ihre moralische Unterstützung. Psychologische Kriegsführung. Jana gegen die fünfzig Kilometer.

Draußen spielt Musik, und sämtliche Bürgermeister der Region sagen noch mehr oder minder intelligente Worte, um die Zeit bis zum Start zu überbrücken: Wie toll das alles sei und wie sehr sie sich freuen und über den Tourismus und den neuen Anmelderekord. Eine Gruppe Wandererinnen hat goldene Luftballons an ihren Rucksäcken befestigt, die wie gefallene Sterne über ihren Köpfen wackeln. Ich wippe auf meinen Füßen hin und her und lausche. Gespielt wird »An Tagen wie diesen« von den Toten Hosen. Dann zerschneidet irgendjemand der Stadtoberen ein rotes Band, die Biene winkt und hoppelt wild hin und her und rund dreitausend Füße folgen einer Fahne und versuchen, sich nicht gegenseitig zu zertrampel.

Rechts und links, vorne und hinten – überall sind die Konfetti-Menschen. Der Wanderer-Pulk hat uns fest im Griff. Ab und zu gelingt uns ein Überholmanöver.

Die ersten Kilometer fühle ich mich eher wie auf einer Demo denn auf einer Wanderung. Es dauert, bis sich das Feld etwas auseinanderzieht. Eine Wandergruppe hat einen Bollerwagen dabei. Vermutlich planen sie gar nicht erst, damit fünfzig Kilometer zurückzulegen. Dann kommt der erste Berg, und mein Freund und ich ziehen am Feld vorbei weiter nach vorne. Unter meinem Wollpulli wird es heiß, drückend. Auf offenem Feld kühlt der Wind ein wenig. Mit jedem Höhenmeter fährt mein Triebwerk weiter hoch. Ich steige hinauf auf die Hügel des Schwäbisch-Fränkischen Walds. In meinem Rucksack klackern die hartgekochten Eier in ihrer Tupperdose.

Nach einer guten Stunde erreichen wir das erste Etappenziel. Wir schmieren uns nur kurz mit Sonnenmilch ein, trinken einen Schluck Wasser und hasten dann weiter. Meine Schritte sind weit.

Bis zum zweiten Etappenziel in Heubach laufen wir ohne Pause durch. Ich versuche, im Gehen ein paar Fotos zu machen. Für die Landschaft habe ich keine Zeit. Aus dem Konfetti-Pulk ist eine lange Schlange geworden. Vor und hinter uns zieht sich eine Wandererschnur über Felder und an Waldrändern entlang. Auf einem schmalen Pfad geht es hinunter nach Heubach. Die Wanderer tippeln hintereinander den Berg hinab.

Pause in Heubach

Dann kommt die erste Pause: Wir setzen uns ins Zelt, schmausen Eier, Käsebrote und Nüsse. Die ersten zwanzig Kilometer haben wir in unter vier Stunden geschafft. Da gönne ich mir doch glatt schon mal ein paar Fruchtgummis. Ich muss pinkeln, aber es ist, wie es immer ist: Vor der Frauentoilette eine lange Schlange. Während die Jungs sich während der Wanderung leicht in die Büsche schlagen können, ist die Sache für Mädels etwas komplizierter. Liebe Veranstalter, bitte stellt doch ein Klowägelchen mehr für die Frauen auf. Das Problem, dass es bei uns etwas länger dauert, ist ja altbekannt.

Ich pinkele also nicht, und wir nehmen die nächste Etappe in Angriff. Es geht steil einen Berg hinauf, an dessen Flanke wir dann fast bis Essingen entlanglaufen. Ab und an fliegen Gesprächsfetzen anderer Wanderer vorbei. Mein Freund und ich sind stiller geworden.

Mittlerweile träume ich von Pommes und Cola in Essingen an der Remshalle. Salz, ich will Salz. Von meiner Familie erreichen mich erste Durchhalteparolen. »Ich glaub‘ an euch«, schreibt eine Kusine aus Berlin. Eine andere schreibt »Piu, piu, piu » mit Emojis, für die ich zu alt bin, als dass ich deren Bedeutung zweifelsfrei bestimmen könnte. Ich interpretiere sie als virtuelle Energiebooster. Mein Onkel schickt Power und meine Tante Durchhaltekraft.

Keine Wertbons, keine Pommes

In Essingen wartet das Fast-Food-Schlaraffenland auf uns. Wir schieben uns durch die Menge an anderen Wanderern hindurch. Einige davon tragen Teller mit den goldenen Stäbchen. Doch dann die Ernüchterung: Um an Pommes zu kommen, müssen wir unsere Wertbons gegen andere Wertbons umtauschen. Ohne die richtigen Devisen geht hier nichts. Die Schlange vor der Umstauschstation ist länger als die Toilettenschlange in Heubach.

Wir akzeptieren, dass es keinen Zweck hat. Kurz denke ich darüber nach, einem anderen Wanderer die Pommes zu entreißen. Ich begnüge aber letztlich mich mit einem Apfel, Nüssen, weitere sauren Feen und Sternen sowie einer Cola, denn die gibt es auch mit unseren vorhandenen Wertbons. Ich trockne meine Füße in der Sonne, und bald brechen wir wieder auf.

Die Kombination aus sauren Fruchtgummis und Cola entpuppt sich als unvorteilhaft. In meinem Magen tobt ein Ozean aus Zucker und Säure. Es schäumt, und die Fruchtgummi-Gicht bäumt sich in mir auf. Mit ist übel. Nicht speiübel, aber doch so schlecht wie nach zehn Minuten Busfahrt auf alpinen Serpentinen. Nicht schlappmachen. Nur ab und an frage ich mich, warum ich das eigentlich mache.

Magnesium kommt zu spät

Die nächste Station – Kilometer achtundreißig – hat nur Kuchen im Angebot. Ich bin der Ansicht, dass wir etwas essen sollten, auch wenn weiterer Zucker gepaart den Ozean in mir nicht beruhigen wird. Mit viel Mühe stopfe ich anderthalb Stücke Kuchen in mich hinein. Neben den Bierbänken warten die Shuttles auf die, die aufgeben. Ich gebe nicht auf. Jetzt doch nicht. In meine Wasserflasche werfe ich eine Magnesiumtablette. Die soll Krämpfen vorbeugen.

Als ich nach der Pause aufstehe, wird mir klar: Ab jetzt beginnt der Kampf. Meine Oberschenkel fühlen sich an, als wären sie aus Porzellan, starr und unbeweglich. Sie wollen nicht mehr. Das Magnesium kam zu spät. Die Füße sind schwer. Ein Indianer kennt keinen Schmerz, aber meine Indianer sind sehr streiklustig.

Wir ziehen weiter. Immerhin geht es fast nur noch bergab. An der nächsten Station applaudieren uns ein paar Helfer und Sanitäter. Sie fragen, ob es uns gut gehe. Was soll ich darauf antworten? Habt ihr irgendein Dopingmittel zur Hand, das die letzten Kilometer zum Kinderspiel werden lässt?

Wir machen nur eine kurze Trinkpause, denn vor uns liegen nur noch sechs Kilometer.

Ich leihe mir die Kopfhörer von meinem Freund und schleppe mich mit einem Hörbuch auf den Ohren einen winzigen Hügel hinauf. Dann stelle ich auf Musik um: Als »Eye of the Tiger« kommt, boxe ich im Licht der untergehenden Sonne im Wald herum. Mir doch egal, wenn das bescheuert aussieht. Ich tänzele zu Salsaklängen und schwinge im Walzertakt. Wieder ein paar Kilometer geschafft.

Um uns bei Laune zu halten, spielen mein Freund und ich ein Spiel. Jeder nennt eine Blume. Wem keine mehr einfällt, hat verloren: Löwenzahn, Stiefmütterchen, Rose, Glockenblume, Schlüsselblume, Tulpe, Schafgarbe, … Rund zwanzig Minuten lang kramen wir in unseren Hirnwindungen nach Blumen.

Der Gang wird wackelig

Mittlerweile fühle ich mich wie nach einer Nacht auf einem Eichenbrett. Die Indianer haben kapituliert und fühlen kaum noch etwas. Mein Gang ist wackelig. Es ist nicht mehr weit, tröste ich mich und stelle mir vor, wie wir im Ziel einlaufen und dort unsere restlichen Wertbons gegen Gnocchi mit Grillgemüse eintauschen. Mein Magen hat sich wieder beruhigt.

Die letzten Kilometer sind nicht sehr erbaulich: Ausfahrtsstraßen, Möbelhäuser, Industriecontainer. Noch sechs Minuten, sagt mein Freund.

Sechs Minuten? Das klingt für mich wie zehn Jahre lebenslänglich. Wie soll ich weitere sechs Minuten hinter mich bringen? Ich greife zum Letzten und fange an zu singen. Es ist ohnehin kaum noch jemand unterwegs. Singen lenkt ab. Singen hebt die Laune.

Dann sehe ich den Stadtgarten von Schäbisch Gmünd. Noch eine Biegung. Mein Freund nimmt meine Hand. Nach elf Stunden und fünfzig Minuten passieren wir das Ziel. Ich bin erleichtert.

Im Congress-Centrum holen wir unsere Urkunden und Medaillen ab und lassen uns auf eine Bank fallen. Hunger habe ich keinen. Mein Körper hat keine Energie mehr, irgendetwas zu verdauen. Meinem Freud geht es ähnlich. Also verschenken wir unsere restlichen Wertbons an Wanderer, denen die Strecke weniger zugesetzt hat, und schleppen uns zum Auto.

Auf dem Weg kommen uns ein paar Abendspaziergänger entgegen.

»Wart ihr wandern? Da war doch heute dieser Marsch …«

»Ja. Wir sind gewandert.«

»Wie weit war das noch mal?«

»Fünfzig Kilometer.«

»Respekt!« Ich lächele ihnen zu.

Sie ziehen über einen Zebrastreifen davon. Es ist längst dunkel geworden. Die Nachtluft ist kühl. Der Boden hart. Wir haben es geschafft. Die Sterne beginnen zu funkeln.

Nachtrag:

Die Nachwehen der Wanderung halten rund zwei Tage an. Danach haben sich Muskeln, Sehnen und Bänder erholt. Die restlichen Gummischlümpfe lagern noch lange bei uns in der Küche.

12-Stunden-Remstalwanderung

Land: Deutschland (Baden-Württemberg)

Gehzeit: Rund zehneinhalb Stunden für einundfünzig Kilometer (18. Mai 2023)

Herausforderungen: Durchhalten! Für so eine lange Tour braucht ihr auf jeden Fall ausreichend Proviant, Wasser, Regen- und/oder Sonnenschutz und möglichst leichte und gut sitzende Schuhe. Empfehlenswert sind auch gute Socken. Die Beschilderung der Organisatoren war einwandfrei. Karte und Kompass oder andere Navigationshilfen sind nicht notwendig. Ansonsten empfiehlt sich ein möglichst leichter Rucksack. Ihr könnt die Tour gemütlich in zwei Tagen laufen. Hier findet ihr den Track:

Höhepunkte: Stadtpark Schwäbisch-Gmünd, Schloßbergflanke hinter Heubach, Blumenwiesen, Abstieg nach Heubach

Lust auf weitere Wandergeschichten? Dann empfehle ich dir mein Buch »Bibbulmun – 1.000 Kilometer durch Australien«.

2 Kommentare Gib deinen ab

  1. lecw sagt:

    Respekt! Umso schöner, dass ihr fast um die Ecke in unserer alten Heimat wart. Schade, dass ihr wenig auf die Umgebung im Remstal achten konntet, es hätte sich gelohnt! Auch unserer Erfahrung nach wird es ab Kilometer 38 seeehr ungemütlich! 👍

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    1. Jana sagt:

      Ein bisschen was haben wir schon mitbekommen. Wir hatten an dem Tag auch wunderbares Wetter und sind an vielen tollen Blumenwiesen vorbeigekommen. Ansonsten habe ich tatsächlich eher meine schmerzenden Muskeln im Gedächtnis behalten.

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