Bibbulmun: Logbuchzauber

Eines der wunderbarsten Dinge auf dem Bibbulmun sind die Logbücher. In jeder Hütte des Fernwanderwegs liegen, sicher verpackt in einer Plastikbox, zwei Exemplare: das rote und das grüne Buch. Das grüne Buch ist eine Art Register. Jeder Wanderer trägt dort ein, woher er kommt, wohin er geht, wann er an der Hütte war, ob er dort übernachtet hat und wie lange seine Reise voraussichtlich dauern wird. Außerdem ist Platz für eine kurze Notiz oder Hinweise an andere Wanderer: zum Wetter, zu überfluteten Gebieten, zu aufdringlichen Beuteltieren.

Logbücher auf dem Bibbulmun
Zeichnungen, Geschichten, Tipps, … Die Logbücher auf dem Bibbulmun sind spannende Lektüre.

Ein Buch für alle

Die Angaben im Register helfen, wenn jemand verloren geht und werden von der Bibbulmun-Stiftung statistisch erfasst. Nach mehreren hundert Kilometern auf dem Bibbulmun kennen mein Freund und ich einige der Wanderer, die uns überholt haben oder den Weg in die entgegengesetzte Richtung laufen.

Da ist zum Beispiel Son of Neil, der weite Teile des Bibbulmun barfuß zurückgelegt hat. Oder Spotted Kiwi, ein mehr als siebzig Jahre alter Neuseeländer, der beim Wandern gerne Radio hört. Oder Matrim, der die tausend Kilometer in vier Wochen schaffen will, was bedeutet, dass er pro Tag rund vierzig Kilometer zurücklegt.

Beuteltierpenis und Buddhismus

Das rote Buch schlägt das grüne allerdings um Längen. So wie ein Stammbuch auch nicht mit Krieg und Frieden mithalten kann.

Die Wanderer sind eingeladen, im roten Buch ihre Gedanken festzuhalten, und viele machen davon ausgiebig Gebrauch. Manche füllen täglich ganze Seiten, kritzeln mit klammern Finger ihre Abenteuer aufs Papier. Philosophische Diskurse über buddhistische Meditation finden sich neben Ausführungen zu unzuverlässiger Verdauung. Gedichte neben anatomischen Zeichnungen, die die Blasen an den Füßen der Bibbulmun-Wanderer zeigen. Sentenzen neben guten Ratschlägen, Liebesgeschichten, Comics, Danksagungen und Grußworten. Rätsel neben einsamen Einsichten.

Da schildert eine Mutter, wie sie mit ihren Kindern begeistert den erigierten Penis einer mumifizierten Gelbfuß-Beutelmaus untersucht hat. Jemand hat zwei Dugitschlangen beim Sex beobachtet und ein Video gemacht. Spotted Kiwi hat seine Regenjacke liegenlassen und musste vier Kilometer zurücklaufen. Ich lese von schmerzenden Rücken, Beinen und nassen Schuhen. Die Autoren träumen von Burgern, Pizza und kaltem Bier. Einer wollte eine Abkürzung nehmen, um sich die nassen Füße zu ersparen, die in den Sümpfen im südlichen Teil des Bibbulmun fast garantiert sind, nur um dann über eine völlig überflutete Straße zu waten, auf der sich längst Wasserpflanzen heimisch fühlen.

Ich sehe Zeichnungen von Kängurus und Bäumen, lese Überlegungen, die Wanderung abzubrechen, von Gefühlen allein in der Natur, von gefundenen Gegenständen, Klatsch und Tratsch. Für eine Wandererin sind die Logbücher die einzige Lektüre. Sie hat, um Gewicht zu sparen, kein Buch dabei. Als sie ein neues und fast leeres Logbuch findet, ist sie enttäuscht, greift aus Langeweile selbst zur Feder und textet einen Bibbulmun-Song.

Stunde der Gemüsebrühe

Wenn mein Freund und ich, meist am Nachmittag, an der Bibbulmun-Hütte ankommen, gehört die Lektüre der Bücher zum Standardprogramm. Manchmal trinken wir dabei einen Tee oder eine Gemüsebrühe und ich fühle mich auf diesem menschenvergessenen Wanderweg, auf dem uns tagelang nur Kängurus und Kakadus begleiten, ein wenig mit all den anderen Wanderern da draußen verbunden.

Eine meiner Aufgaben ist es, ins grüne Buch zu schreiben. Das mache ich gewissenhaft. Falls wir verloren gehen, sollen die Retter wissen, wo sie suchen sollen. Ins rote Buch schreibe ich nichts. Ich habe genug damit zu tun, abends noch ein paar Zeilen in mein privates Tagebüchlein zu krakeln. Nur an einem Tag mache ich eine Ausnahme. Es wird eine Danksagung und sie hat mit Trail Magic, also Magie auf dem Wanderweg, zu tun. Denn es passiert Zauberhaftes, wenn man so lange im australischen Busch unterwegs ist.

Baum für Baum

Es ist für uns Tag dreiunddreißig auf dem Track. Donnelly River Village haben wir passiert, dort die zahmen Emus und Kängurus gestreichelt. Fünfhundert Kilometer liegen hinter uns, davon führt der größte Teil durch Wald. Tagelang laufen wir zwischen Bäumen und Büschen. Jede Stromleitung, jeder brackige Tümpel, jeder Felsbrocken entzückt mich, bietet er doch ein wenig Abwechslung aus der Monotonie der Banksia-, Karri- und Jarrahbäume, die ihr euch so vorstellen könnt: GROßER BAUM, geborstener Baum, Baumstamm auf dem Weg, Baum ohne besondere Merkmale, Baum mit Vogel drauf, Ast von Baum auf Weg, kahler Baum, Nadelbaum, Baumhöhle, verbrannter Baum, Baumwurzel, schiefe Bäume, Baumrinde auf dem Wanderweg, Baumrindenfetzen in den Ästen anderer Bäume, bemooster Baum, Baum von Sonne beschienen, Baum mit Wegzeichen, Baum weht im Wind, Regentropfen fallen von Baum, Ameise krabbelt auf Baum, Brücke, die aus einem einzigen Baumstamm gebaut wurde, Pilze an Baum, Termitenhügel an Baum, abgesägter Baum, …

So geht es wochenlang. Wer den Bibbulmun gehen will, muss waldfest sein.

Die Etappe zwischen den Hütten Tom Road und Boarding House ist lang. Rund sechseinhalb Stunden brauchen wir für die etwa dreiundzwanzig Kilometer. Mehrfach wird es an diesem Tag heftig regnen. Meinem Freund wird abends trotz Regenschirm das Wasser im Rucksack stehen.

Ein Ranger macht ein Versprechen

Am Campingplatz bei Greens Island, zu dem wir nach zweieinhalb Stunden kommen, sind wir noch trocken. Zwei Ranger tauchen auf. Wie die meisten Australier, die wir auf dem Track treffen, nehmen sie sich Zeit für einen kurzen Plausch. Ob wir an den Hütten Feuer gemacht hätten, will der Ältere wissen. Nur wenige Male, erzählen wir. Ob es kein Feuerholz gegeben habe, fragt er etwas pikiert und erklärt, dass die Hütten in der Umgebung in ihren Zuständigkeitsbereich fallen.

Doch, doch, reichlich Holz, antworten wir. Er runzelt die Stirn und schaut zum Himmel. Ihr werdet heute noch nass, prophezeit der Ranger. Er werde uns ein Feuer machen, er müsse ohnehin noch zur Hütte.

Ich bin mir sicher, irgendwas nicht so recht verstanden zu haben. Die Aussies sind nicht alle gut zu verstehen. Wieso sollte der Mann für uns Feuer machen? Der weiß ja gar nicht wann wir ankommen. Und auf so ein Feuer muss man doch aufpassen. Vielleicht ein Witz, den ich nicht verstanden habe, denke ich.

Als wir uns Stunden später Boarding House nähern, steigt dort Rauch auf. In der Feuerstelle flackert und glüht es, niemand ist zu sehen. Keine Wanderer, keine Ranger. Im Feuer liegen dicke Scheite, die dem Nieselregen der vergangenen Stunden getrotzt haben. Wir stellen die nassen Rucksäcke ans Feuer. Sie dampfen sofort. Die Flammen reichen aus, um darauf Nudeln zu kochen.

An diesem Tag schreibe ich das erste Mal in das rote Buch und bedanke mich bei einem Unbekannten. Ein Dankeschön für ein Feuer und eine magische Geschichte.

Feuerstelle auf dem Bibbulmun
An der Hütte Boarding House wartet ein helles Feuer auf uns.

Bibbulmun: Donnelly River Village bis Pemberton

Land: Australien

Anreise: Donnelly River Village ist eine unserer Zwischenstationen auf dem Bibbulmun und ist außer zu Fuß nur mit dem Auto erreichbar.

Gehzeit: fünf Tage für 109 Kilometer (9. bis 13. September 2018)

Herausforderungen: Wald und Wald und Wald, teils sehr dicht und dunkel, wenig Abwechslung und Ausblicke

Höhepunkte: zahme neugierige Emus und Kängurus und Splendid Fairy Wrens (sehen aus wie Spatzen, die in einen Topf blauer Farbe gefallen oder aus dem Film Avatar entflogen sind) in Donnelly River Village, Scones im Café in Donnelly River Village, Karri-Bäume, der Donnelly River, Abend am Lagerfeuer an der Hütte Beavis, Beedleup Falls (Wasserfälle)

4 Kommentare Gib deinen ab

  1. Wieder einmal magisch schön geschrieben. Ich freue mich schon auf den nächsten Bericht!
    Gruß Aurora

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    1. Jana sagt:

      Vielen Dank. Ich komme mit dem Schreiben auch schon gar nicht mehr nach.

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