Australier haben ein interessantes Verhältnis zu den Gefahren, die in ihrem Land lauern. Da erinnern die Wandertafeln am Bibbulmun daran, Sonnenmilch, -hut und Proviant einzupacken, aber die Giftschlangen, die in den Grasbüscheln auf unvorsichtige Frösche oder Possums warten und Wanderer in arge Bedrängnis bringen können, bleiben unerwähnt. Die Bibbulmun-Wanderführer ermahnen jedes Mal zu äußerster Vorsicht, sobald eine Straße zu queren ist. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit auf einer abgelegenen Straße im australischen Busch einem motorisierten Gefährt zu begegnen geringer, als von einem Känguru niedergetrampelt zu werden. Außerdem haben die Australier momentan Angst vor Erdbeeren, weil irgendwelche Volldeppen Nadeln in die Früchtchen gesteckt haben. Aber die Australier halten zusammen und sind fest entschlossen, die Erdbeerindustrie nicht untergehen zu lassen.
Schon bevor mein Freund und ich uns Anfang August auf den Bibbulmun wagen, werden wir im Büro des Wanderwegs in Perth (ja, der Wanderweg hat ein eigenes Büro) mit australischen Risikoumgangsformen konfrontiert.
Im Büro des Wanderwegs
Die ältere Dame im Büro empfängt uns freundlich. Sie ist nicht gerade der Crocodile-Dundee-Typ, der sich mit Machete und Messer zwischen den Zähnen durch kratzende Büsche kämpft, eher der Oma-züchtet-Rosen-Typ. Sie ist den Fernwanderweg, der sich tausend Kilometern von Perth nach Albany durch Wälder, Sümpfe und über Sandstrände zieht, bereits mehrfach gewandert.
Wir fragen nach den Gefahren auf dem Bibbulmun. Der Biss der Redback Spider (Rotrückenspinne) sei nicht arg gefährlich, sagt die Dame. Der Enkel einer Bekannten sei in den Fuß gebissen worden, der sei nur etwas angeschwollen. Sie formt mit ihren Händen etwas Fußballgroßes. Einen normalen Erwachsenen töte der Biss nicht. Ich hoffe, dass ich in die Kategorie normaler Erwachsener falle.
Um die Schlangen sollen wir einfach drumherum gehen, schildert sie weiter die Verhaltensnormen für den Busch. Und wenn uns doch eine erwischt, sollen wir den Biss auf der Bandage markieren, bis Hilfe vor Ort ist.
Die Bulldoggenameisen, die überall auf den Wegen krabbeln und die es in der Liste der dreißig tödlichsten Tiere Australiens auf Rang neunundzwanzig geschafft haben, erwähnt sie erst gar nicht. Die Bulldoggenameise sieht aus, als wäre sie in einem geheimen Forschungslabor zu einem Killerinsekt umtransformiert worden. Wir observieren in unseren Wanderpausen viele Exemplare, die mit ihren riesigen Klauen fast drei Zentimeter lang sind. Es wäre wahrscheinlich ein Leichtes für sie, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Glücklicherweise sind sie darauf noch nicht gekommen. Die Rotrückenspinne liegt auf der Liste der tödlichsten Tiere übrigens auf Platz vierundzwanzig.
Mückenlarven einfach rausfiltern
Wie das mit dem Wasser an den Hütten sei, wollen wir wissen. Ob wir es behandeln sollen. Das Wasser in den Regenwassertanks sei manchmal braun, aber das sei nur von den Blättern. Völlig unbedenklich, erläutert sie. Manchmal würden im Wasser Mückenlarven schwimmen. Einfach rausfischen. Tatsächlich zappeln in unseren Wasserflaschen ab und zu grünliche durchsichtige Würmlein.
Sie schaut uns kritisch an. Sie sei auf einer Farm aufgewachsen. Da hätte sich ihr Vater nicht um Keime im Regenwasser geschert. Vielleicht seien wir aber die australischen Keime nicht gewohnt, schließt sie und schaut uns an wie zwei kümmerliche Mückenlarven.
Letztlich ist es aber ein Baum, der mich überzeugt, dass es in Australien in Sachen Risikomanagement anders als in Deutschland zugeht. In der Nähe der Kleinstadt Pemberton reckt er seine Krone dem australischen Himmel entgegen. Der Bibbulmun führt uns an Tag vierzig unserer Wanderung direkt an dem Baum, dem Gloucester Tree, vorbei: ein weiß-grauer Stamm, gerade wie eine Betonsäule, mehr als sechzig Meter hoch. Darin stecken Eisenstangen, die sich wie eine Spirale um den Baum winden. Wer mutig ist, kann fast wie auf einer Strickleiter zu einer Aussichtsplattform auf achtundfünzig Metern nach oben steigen. Kein Netz, kein doppelter Boden, kein Helm, keine Sicherheitseinweisung, kein Aufsichtspersonal. Ein Fehltritt und man hängt als menschlicher Dönerspieß am Gloucester Tree. Den Thrill gibt es gratis. Die Baumbesteigung kostet keinen Cent.
Ein Baum als Arbeitsplatz
Der Baum ist eine Touristenattraktion, wurde aber nicht von geschäftstüchtigen Investoren gepflanzt. Er war ein Ausguck. Ein Towerman überwachte den Busch von oben und gab Feueralarm, wenn’s brannte. Wer den Job wollte, brauchte gute Augen und musste Karten lesen können. Schwindelfreiheit wäre sicher auch nicht schlecht, denke ich, als ich die Jobbeschreibung auf der Infotafel lese. Für mich endet die Baumbesteigung nach fünf Stufen. Das reicht, beschließe ich, und mein Freund macht noch schnell ein Foto.
Ein Warnschild am Fuß des Baums rät Herzkranken und Kindern von der Besteigung ab. Das hindert ein etwa dreizehnjähriges Mädchen nicht daran, die Eisenstangen hochzuklettern. Ihr Eltern bleiben unten und ich mutmaße, dass sie die Göre loswerden wollen. Ich starre ihr hinterher, wie sie kleiner wird und im Blätterdach verschwindet. Es dauert fast eine Viertelstunde, bis sie oben ist, und ich frage mich, wie viele Touristen mittlerweile auf dem Baum hausen, weil sie es nicht mehr runtergeschafft haben. Sie ernähren sich von geschlachteten Rotschwanz-Rabenkakadus und trinken Regenwasser mit Mückenlarven.
Wahrscheinlich mache ich mir zu viele Gedanken. No worries, sage ich mir, fühle mich dabei sehr australisch und stapfe vom Gloucester Tree wieder tief in den australischen Busch.
Bibbulmun: Pemberton bis Northcliffe
Land: Australien
Anreise: Pemberton ist von Perth aus mit dem Bus erreichbar. Für uns war Pemberton der Endpunkt der vorherigen Etappe auf dem Bibbulmun.
Gehzeit: drei Tage für 59 Kilometer (17. bis 19. September 2018)
Herausforderungen: heftiger Regen
Höhepunkte: Kaffeetrinken in Pemberton, Gloucester Tree, nächtlicher Besuch einer Gelbfuß-Beutelmaus in der Warren-Hütte, See an der Schafer-Hütte
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