Ich sehe Sternenhimmel: eine Exkursion ins Dunkle
Ich schimpfe mit mir. Warum habe ich nicht die gefütterten Schuhe angezogen? Meine Zehen sind steif wie Hühnchenschenkel aus der Gefriertruhe. Das Universum haucht mir entgegen. Es fühlt sich an wie der Atem eines Gottes, der eine Überdosis Pfefferminzdrops gelutscht hat. Ich ziehe meine Kapuze enger um die Ohren, trippele auf der Stelle herum, stecke die Hände tief in meine Jackentaschen und schaue nach oben in den Nachthimmel, wo Götter und Fabelwesen ihre Kreise ziehen: Da ist Orion! Er trägt einen Gürtel, an dem drei Sterne funkeln. Ein riesiger Skorpion ist dem Jäger immer dicht auf den Fersen, bekommt ihn aber nie zu fassen. Erst wenn das eine Sternbild untergeht, erscheint das andere am Himmel.
Die Sternenwanderung, die mein Freund und ich gebucht haben, hat gerade erst begonnen. Sie dauert insgesamt rund zweieinhalb Stunden. Es ist Anfang März, und wir haben Glück: Der Himmel ist klar. Aber auch für wolkige Nächte hat unser Sternenführer vorgesorgt: Planetenmodelle, Himmelskarten und mehr liegen in dem Bollerwagen, den er hinter sich herzieht.
Wenn ich lange genug in den Himmel starre, meine ich tatsächlich, den Typ namens Orion zu erkennen: die Umrisse eines Mannes, der mit erhobenem Arm am Firmament steht, und an einem Gürtel ein Schwert aus Sternennebeln trägt. Die Mythen und Sagen verbinden mich mit all den Menschen, die vor mir in die Nacht eingetaucht sind. Der Himmel berührt mich sanft wie Tausende alter Seelen: beängstigend, einnehmend, erschütternd. Wenn ich nicht aufpasse, schleudert mich die Unendlichkeit in einen Brunnen undenkbarer Gedanken, in dem alles anders und nichts mehr wichtig ist.
Ein Lichtschwert und die Verschmutzung der Nacht
Der Sternenführer holt mich wieder zurück aus dem Reich der Metaphysik und leuchtet mit seiner Taschenlampe den Jupiter an. Der Strahl ist so verdichtet, dass es ein bisschen so aussieht, als hätte er ein seeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeehr langes Lichtschwert in der Hand. Möge die Macht (oder die Nacht?) mit uns sein!
»Stört das nicht die Flugzeuge?«, fragt eine Teilnehmerin der Sternenwanderung besorgt.
Der Sternenführer lacht.
Nein, so weit würde das Licht nun doch nicht reichen. Ich bin beruhigt, dass wir mit unserem Lichtschwert keine Ufos aufscheuchen, die nur darauf warten, endlich die Menschheit zu versklaven.
Die Lampe hilft, zwischen alle den Sternen am Himmel denjenigen auszumachen, über den der Sternenführer gerade spricht. Als wir den Ortsrand von Nüdlingen am Rande der Rhön verlassen und das Licht der Straßenlaternen verblasst, tauchen wir immer tiefer ins Dunkel ein. Am Horizont leuchtet ein Windrad.
Der Sternenführer hatte uns per E-Mail eingebläut, uns dick anzuziehen. »So, als wäre es 15 Grad kälter«, hieß es im Text. Das erschien mir übertrieben. So kühl würde es schon nicht werden. Wurde es aber.
Also bin ich froh um jeden Schritt, den wir tun, denn die Kälte wird immer dichter. Die Wanderung ist eher ein Spaziergang. Wir laufen einen Fahrweg hinauf auf ein Waldgebiet zu. Irgendwann fühle ich, dass wir nicht mehr auf Asphalt unterwegs sind, sondern auf Kieseln.
Das UNESCO-Biosphärenreservat Rhön im Dreiländereck Bayern, Hessen und Thüringen ist als internationaler Sternenpark anerkannt. Die Gegend ist nur spärlich besiegelt. Die Dunkelheit hat noch eine Chance. Und das ist gut so. Denn nicht nur mit Plastik und CO2 quälen wir den Planeten, sondern auch mit unserem Hang zur Dauerbeleuchtung. Wir wollen es hell, aber die Natur liebt die Schwärze. Unser Helligkeitsfimmel lässt den Wachstumszyklus von Pflanzen durcheinanderkommen. Zugvögel verlieren die Orientierung, und Insekten sterben einen flackernden Tod in Straßenlaternen. Lichtsmog ist aber nicht nur schädlich, sondern raubt uns den Blick auf eines der größten Wunder, das wir mit unseren Augen sehen können.
Früher war Milchstraße an vielen Orten dieser Erde sichtbar. Jetzt werden es immer weniger. Beleuchtung und Luftverschmutzung versperren uns den Blick ins Universum. Die International Dark Sky Association hat der Lichtverschmutzung den Kampf angesagt. Sie zertifiziert und unterstützt Sternenparks auf der ganzen Welt.
Nächtliches Spektakel
Obwohl ich viel draußen unterwegs bin, sehe ich auf meinen Wanderungen nur selten den Nachthimmel: Meistens liege ich längst im Zelt oder schlafe schon, wenn die ersten Sterne aufgehen. Dabei ist ein Sternenhimmel wie in der Rhön eine Naturerfahrung, die locker mit tiefen Schluchten, tosenden Wasserfällen oder imposanten Gipfeln mithalten kann. Und sie kostet keinen Cent.
Ich erinnere mich an eine Nacht unter freiem Himmel auf Mallorca, an Vollmondnächte in Australien und an Sterne über dem Meer auf La Gomera. Wer hätte gedacht, dass ich einmal der verlorenen Dunkelheit nachtrauern würde?
»Es dauert etwa eine halbe Stunde, bis sich die Augen komplett an die Dunkelheit gewöhnt haben«, erklärt unser Sternenführer. Er empfiehlt uns, auf nächtlichen Touren auf Taschenlampen zu verzichten und auf unsere Augen zu vertrauen, die irgendwann mehr sehen als nur verschwommenes Grau. Tatsächlich ist die Gruppe auch ohne Lampen stolperfrei unterwegs. Meine Füße tragen mich sicher, obwohl ich sie nicht sehen kann. Immer mehr Sterne tauchen auf. Der Himmel trägt funkelnde Sommersprossen.
Ich kann mir nicht alles merken, was unser Sternenführer erzählt. Ein bisschen was bleibt aber doch hängen. Dass je nach Jahreszeit andere Sternbilder zu sehen sind. Dass es »offizielle« Sternbilder gibt und weniger offizielle. Wie man vom großen Wagen zum kleinen Wagen und damit zum Polarstern kommt. Und dass nicht jede Sternschnuppe aus edlem Sternenstaub besteht, sondern manch eine auch aus Abfall.
Wenn der Wäschekorb der Astronauten auf der Internationalen Raumstation voller Schmutzwäsche ist, packen sie ihn in einen Müllbeutel und werfen ihn raus. Es ist zu teuer, die Wäsche der Astronauten wieder zur Erde zu schicken. Also wird die Dreckwäsche zusammen mit den getrockneten Fäkalien in Kapseln verpackt, die dann über der Erde abstürzen und verglühen. Hier ist also die Kacke am Dampfen. Hiermit entschuldige ich mich sofort bei allen Leserinnen und Lesern für diesen dumpfen Wortwitz, den ich mir aber nicht verkneifen kann.
Der Sternenführer ist ein junger Mann, noch nicht einmal dreißig Jahre alt. Wenn er von den Sternen da oben erzählt, funkeln seinen Augen ein bisschen. Vielleicht steckt ins uns allen doch ein bisschen Sternenlicht.
Wir entdecken Jupiter am Himmel und ich frage mich, ob irgendwann ein Mensch dorthin reisen wird. Ich habe eine Schwäche für Science-Fiction. Mich beruhigt es, dass das Universum so groß ist, dass es für die Menschen nach mir noch so viel zu entdecken gibt. Meine einzige Sorge dabei ist, dass wir keinen hypergalaktischen Antrieb entwickelt haben, bevor sich unsere Sonne in einen roten Riesen verwandelt und uns alle einfach verdampft. Das Universum nimmt da keine Rücksicht. Wir sind auch nur Insekten, die im Licht untergehen.
Rhön: Geführte Sternenwanderung
Land: Deutschland (Bayern)
Anreise: Die geführte Sternenwanderung, die wir gebucht hatten, beginnt am Parkplatz an der Schlossberghalle in Nüdlingen. Dort haben wir auch geparkt. Da die Sternentour erst am späten Abend endet, braucht ihr ein Auto, um von Nüdlingen wieder wegzukommen (wenn ihr nicht dort übernachtet). Die Tour war ein Angebot der VHS Bad Kissingen und Hammelburg. Auch das Biosphärenreservat Rhön bietet regelmäßig Sternenführungen an.
Gehzeit: Wir waren rund 2,5 Stunden unterwegs (März 2023). Die Strecke war sehr kurz, insgesamt rund vier Kilometer.
Herausforderungen: Die Kälte hat uns zu schaffen gemacht, ansonsten birgt diese Tour aber keine Herausforderungen. Ich empfehle für die kühle Jahreszeiten, sich an die Kleidungsempfehlungen zu halten und vielleicht noch eine Thermoskanne mit einem Heißgetränk einzupacken.
Höhepunkte: Die zahlreichen Mythen und Sagen, der Sternenhimmel insgesamt, Orion, Jupiter, das Gehen in der Dunkelheit.
