Hunsrück: Wander-Quickie

Zwei Stunden auf dem Traumschleifchen Spitzer Stein

»Da ist der neue Wanderweg«, ruft die Frau zu ihrem Mann, zeigt in unsere Richtung und verschwindet im Wald. Es hat sich schon herumgesprochen, dass es in der Nähe von St. Goar ein neues Traumschleifchen gibt. Sein Name: Spitzer Stein.

Wie das Titellied eines Hollywoodepos

Die Taumschleifchen sind die kleinen Schwestern der Traumschleifen, von denen es in der Region Saar-Hunsrück schon mehr als hundert gibt. Die Rundtour Spitzer Stein ist gerade mal ein paar Monate alt, nur knapp sieben Kilometer lang und durchkomponiert wie das Titellied eines Hollywoodepos.

Es ist Ende September, als ich mit meinem Freund, meinem Onkel und meiner Tante auf dem Traumschleifchen unterwegs bin. An diesem Tag reicht die Zeit nicht für ein lange Tour. Das Traumschleifchen kommt als Wander-Quickie gerade recht. Man könnte auch Herbstspaziergang dazu sagen.

Wir steigen am Wanderparkplatz aus dem Auto und folgen den Markierungen. Die Luft auf den Hunsrückhöhen fühlt sich an, als würde mir jemand eine kalte Hand auf die Wange legen. An den Büschen glänzen Hagebutten wie frisch geschminkte Lippen. Es riecht nach nassem Holz. Das Licht ist fahl, als hätte jemand die Welt in Butterbrotpapier gewickelt. Meine Nase läuft, und ich setze meine Wollmütze auf.

Ein B-Promi putzt sich heraus

Bei der Streckenführung des Traumschleifchens hat man nichts dem Zufall überlassen. Die Landschaft wurde in Szene gesetzt wie ein Promi auf dem roten Teppich. Zugegebenermaßen bleibt es aber ein B-Promi. Die deutschen Mittelgebirge haben nicht den gleichen Glamourfaktor wie die Alpen, und nicht überall ist Platz für eine neue Hängeseilbrücke.

Aber es passt eine Menge auf die sieben Kilometer Wegstrecke: drei Hütten zum Unterstellen (meine Tante tischt Salzbrezeln, Dipp und Hanuta auf), Aussicht auf die Loreley, Liegebänke, weite Felder, hinter denen sich der Rhein in seinem Bett versteckt, eine Burg, die sich aus dem Tal erhebt. Wir laufen durch einen Tunnel aus alten Apfelbäumen. Die kahlen Äste haben sich wie zerzaustes Haar ineinandergekettet. Gelb-faulige Früchte versinken im Boden. Sie riechen süßlich wie Most. Biebernheim zaubert dann noch etwas Lokalgeschichte aus dem Hut. In dem Dorf steht eine sympathische Figur aus grauem Stein: ein Herr mit Schnauzer, großen Augen, ruhigem Lächeln, Orden an der Brust, Zylinder auf dem Kopf und Zigarre zwischen den Lippen. Er heißt Quetschehannes.

Der Quetschehannes soll ein beliebter Zuckerwarenverkäufer gewesen sein, der zur Biewerumer Quetschekerb (Biebernheimer Zwetschgenkirmes) ins Dorf kam. Eines Tages starb der Mann, und die Kinder von Biebernheim trauerten ihm nach. Nie mehr Zuckerzeugs! Dunkle Aussichten im Hunsrück des späten 19. Jahrhunderts. Die Wirtin eines Gasthauses hatte die rettende Idee und riet den Kindern, sich ihren eigenen Quetschehannes zu bauen. Seitdem tun sie genau das. Zur Kirmes bastelt die Jugend eine Quetschehannes-Puppe, die einen Ehrenplatz im Festzelt bekommt und am Ende des Festes feierlich verbrannt wird.

Dank Quetschehannes, Mittelrheinromantik, Weitsicht und Mischwald fühle ich mich auf dem Treimschleifchen gut unterhalten. »«Let me entertain you«, rockt das Moos auf der Rinde, die dunkel wie Kaffeesatz leuchtet. Bloß keine Langeweile! Hier ein Pilz, da eine Infotafel, am Wegrand ein Ameisenhaufen.

Kurze Teile der Strecke sind mit frischem Rindenmulch bedeckt. Er ist noch hell, fast gelb, und sieht aus, als hätte ein völlig unbegabter Holzschnitzer versucht, Tausende avangardistischer Kanarienvögel zu erschaffen. Rinde im Wald auszustreuen hat bestimmt seine Berechtigung, aber die Schnitzel machen endgültig Schluss mit der Illusion, die Natur könne hier schalten und walten, wie sie will. Wegzeichen wachsen nicht auf Bäumen. Irgendwer hält die Brombeeren in Schach. Die Wiese ist gemäht. Die Hütten sind gepflegt. Das Traumschleifchen hat keine Ecken und Kanten. Es kommt mir vor wie eine selbst zusammengestellte Playlist mit Partyhits, die man zu oft gehört hat.

Felsen und Metall über dem Rhein

Und natürlich braucht so eine Tour ihren Aussichtsturm. Das Metallgerüst sieht aus wie eine riesige Zahnspange, die sich in die Luft zwirbelt. Der Turm windet sich am Spitzenstein (417m) in die Höhe. Auf seinem Kopf thront einer Felsformation, die direkt aus einem Gemälde von Caspar David Friedrich stammen könnte. Riesige Quader ragen aus dem Wald, als hätten sie dort die Kruste der Erde aufgebrochen. Am Horizont umschließen die Weinberge den Rhein.

Der Zahnspangenturm ist ganz neu. Kein einziges Graffiti verschandelt den Stahl. Seinen hölzernen Vorgänger hatte der Schimmelpilz dahingerafft.

Ganz oben steht ein optischer Telegraph – in Erinnerung an die alte Telegraphenstation, die einst auf dem Spitzenstein zu Hause war. Heute sind davon nur noch die Überreste zu sehen. Die Schwenkarme des Telegraphen lassen sich in verschiedene Positionen drehen, um damit Nachrichten zu übermitteln. Für mich sehen sie aus wie die verdrehten Gliedmaßen eines Selbstmörders, der aus dem neunten Stock eines Hochhauses gesprungen ist.

Ich traue mich nicht ganz nach oben. Der Turm vibriert unter meinen Schritten. Er surrt im Wind und ist nach allen Seiten hin offen. Die Zwischenböden ragen in einem spitzen Winkel weit in die Landschaft hinein. So viel Sauerstoff hier oben. Ich klammere mich an das Geländer, das mir sofort die Wärme aus den Fingern saugt und mache noch ein paar Bilder von der atemberaubenden Kulisse.

Vielleicht liegt es am Herbst, aber es macht mich nachdenklich, dieses allzu perfekte Traumschleifchen. Ein kleiner schwarzer Käfer landet auf dem Bauch meines Onkels. Meine Tante schnippt ihn weg wie einen unliebsamen Eindringling. Vielleicht war das Karl der Käfer aus dem gleichnamigen Lied. Wahrscheinlich hat der hier auch nicht mehr viel zu sagen.

Hunsrück: Traumschleifchen Spitzer Stein

Land: Deutschland

Anreise: Biebernheim ist unter der Woche zum Beispiel von Oberwesel aus mit dem Bus bzw. am Wochenende mit dem Sammeltaxi erreichbar (Reservierung notwendig). In der Nähe des Spitzensteins gibt es außerdem einen Wanderparkplatz, von dem ihr ebenfalls loslaufen könnt.

Gehzeit: rund zwei Stunden für knapp sieben Kilometer (27. September 2020)

Herausforderungen: Keine. Beim Spitzenstein besteht der Pfad für wenige Meter nur noch aus Steinen, ansonsten führt er über gut begehbare Wald- oder Wirtschaftswege. Die Route ist gut und eindeutig beschildert. Insgesamt sind nur knapp 240 Höhenmeter zu bezwingen.

Ich empfehle, in Bieberheim zu starten. So liegt der Aussichtsturm in der Mitte der Tour, und ihr könnt dort eine Rast einlegen. Startet ihr am Wanderparkplatz, habt ihr den Spitzenstein schon nach wenigen Minuten erreicht. Außerdem lauft ihr ab Biebernheim erst bergauf und danach bergab. Beim Startpunkt Wanderparkplatz ist es umgekehrt. Ich gehe aber lieber zuerst hoch und dann runter.

Höhepunkte: Aussicht auf Loreley und den Rhein, Spitzer Stein, Aussichtsturm, Quetschehannes, Ameisenaufen

Willst du noch mehr Hunsrückluft schnuppern? Dann findest du auf »Fußläufig erreichbar« Wandergeschichten zur Traumschleife Klingelfloß und aus dem Nationalpark Hunsrück-Hochwald.

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