Harz: Wasserwirtschaftswunderland

Von Kiepenfrauen und Wasserknechten am Harzer Hexenstieg

Wenn ihr mal die Schnauze voll von eurem Job habt, dann tröstet euch vielleicht der Gedanke, dass ihr nicht als »Harz-Kamel« schuften müsst. So haben sie früher die Kiepenfrauen angeblich genannt. Garn, Holz, Gewürze, Obst oder auch Briefe haben die tapferen Weiber die Harzer Hügel hinauf und hinunter geschleppt, in einem Weidenkorb, bis zu vierzig Kilo schwer.

Ich weiß, wie sich ein fünfzehn Kilo Wanderrucksack anfühlt, und kann nur ahnen, was es heißt, knapp das Dreifache an Gewicht zu tragen. Der Job muss eine elende Plackerei gewesen sein.

Verschnaufpause am Wegrand

Eine aus der Kiepenfrauenzunft sitzt am Rand des Harzer Hexenstiegs, eine Holzfigur, lebensgroß. Sie trägt ein rotes Kopftuch, die Hände im Schoß, ihren Weidenkorb hat sie noch auf dem Rücken, als würde sie nur kurz verschnaufen. Neben ihr steht eine wetterfeste Nachbildung ihres Korbs, befestigt an einer Schiene. Wer wissen will, ob er es mit der Kiepenfrau aufnehmen kann, kann versuchen, die Kiepe anzuheben.

Ich ruckele und rüttele, ziehe und zerre und bewege den Korb keinen Millimeter. Später am Tag treffe ich einen anderen Hexenstieg-Wanderer. Er versichert mir, dass sich die Vorrichtung gewiss verkeilt habe und ich deshalb keine Chance gehabt hätte. Das tröstet mich, ich bleibe aber dabei, dass ich eine miserable Kiepenfrau gewesen wäre.

Dass die Kiepenfrauen einst so gut zu tun hatten, dafür hat der Bergbau im Harz gesorgt: Der Boden steckte voller Silber, Kupfer und anderer Metalle – und die Fürstenhäuser ringsum rieben sich die Hände, versprach das Erz doch reichen Ertrag. Dumm nur, dass es dort, wo es Erze gab, sonst fast nichts gab. Auf den Clausthaler Höhen gediehen weder Gemüse noch Obst, weder Roggen noch Weizen. Und Silbererz füllte eben keine Suppenschüsseln. Für den Warentransport in die abgelegenen Höhen blieben nur die Schultern der Kiepenfrau oder die Rücken der Esel.

Der Harzer Hexenstieg ist reich an solchen Geschichten – und damit auf den ersten Etappen meiner viereinhalbtägigen Tour historisch interessanter als landschaftlich. Der Himmel ist zugekleistert mit Novembergrau. An den Aussichtspunkten bewundere ich imposante Nebelmassen und komme mir vor, als würde ich durch ein farbloses Aquarell laufen.

Die kahle Brust eines gerupften Huhns

Der Wald erinnert mich an ein gerupftes leicht verkohltes Huhn, auf dessen kahlgeschorener Brust einzelne Fichtenborsten stehen wie die letzten Zeugen einer apokalyptischen Borkenkäfer- und Kettensägeninvasion – die Restposten einer Waldwirtschaft, die auf Monokultur und schnellen Ertrag gesetzt hat. Die Harzer Borkenkäfer-Community hilft dabei, die anfälligen Fichten loszuwerden und der Buche Platz zu machen. Im Nationalpark lässt man den Käfer gewähren. Er hat fette Jahre hinter sich.

Man darf also nicht zu viel erwarten, wenn man sich wie ich im November auf den Hexenstieg einlässt. Habe ich glücklicherweise auch nicht und schreite mit Regenschirm in der Hand munter durch das verlassene Borkenkäfer-Territorium, als ich den Ausläufern eines gigantischen Bauwerks begegne, das sich inmitten der apokalyptischen Hühnerbrust durch die Zeit gerettet hat. Es zieht sich über Hunderte von Kilometern durch den Wald und trägt den meiner Ansicht nach einschläfernden Namen »Oberharzer Wasserwirtschaft«. Ich empfehle den Kollegen vom Tourismus-Marketing eine etwas klangvollere Bezeichnung: »Mega-Kanal«, »Oberharzer Oberhammer« oder »Water-Power-Gigant« würde der Konstruktion eher gerecht. Dass die Historiker stöhnen, darf uns nicht stören, muss doch die Oberharzer Wasserwirtschaft mit anderen Attraktionen in der Gegend konkurrieren, etwa der Hängebrücke Titan, die unweit vom Hexenstieg über der Rappbodetalsperre baumelt und über die ich an anderer Stelle bereits geschrieben habe.

Kanäle ohne Ende

Zugegeben: So ein gemauerter Wassergraben versetzt mich normalerweise nicht in Entzückung. Es bleibt ein Wassergraben, rund einen Meter breit und etwa ebenso tief. Daran ändern auch die Infotafeln mit den detaillierten Beschreibungen über Bauweise und Bedeutung der Anlage nichts. Sie sind so spannend wie die Gebrauchsanweisung meines Wasserkochers. Aber die Masse macht’s. Das Kanalsystem begleitet mich tagelang. Nach der nächsten Biegung plätschert das Wasser immer noch. Und läuft. Und stürzt sich eine Stufe hinunter. Und zischt und sammelt Regenwasser. Und transportiert Laub. Und fließt neben mir dahin. Stunde um Stunde.

Seit 2010 sind weite Teile der Oberharzer Wasserwirtschaft Unesco-Weltkulturerbe. Zur Anlage zählen nicht nur Gräben, sondern auch Teiche, Staumauern und Wasserräder. Clevere Zisterziensermönche haben vor mehr als achthundert Jahren mit dem Bauprojekt begonnen. Die Idee: Wasser nutzen, um Wasser loszuwerden. Denn wer Erz abbauen wollte, kämpfte damit, dass die Schächte vollliefen. Also leitete man das Wasser so um, dass sich damit Pumpen betreiben ließen – und die sorgten dafür, dass die Bergleute keine so nassen Füße bekamen.

Vorher übernahmen diesen Job Pferde – oder Wasserknechte. Am zweiten Tag im Wasserwirtschaftswunderland lerne ich, wieso das auf Dauer keine Lösung war und es ohne Kanäle und Wasserräder wohl nie zum Bergbauboom im Oberharz gekommen wäre. Ich erreiche eine Infotafel, an der eine Reihe Holzeimer steht, dem wichtigsten Werkzeug der Wasserknechte. Mit Muskelkraft und Pferdestärken ließen sich immerhin Schächte noch einigermaßen bis zwanzig, dreißig Meter Tiefe wasserfrei halten. Wer weiter runter wollte, brauchte mehr Männer und mehr Gäule.

Praktikum als Wasserknecht

An der Infotafel nutze ein zweites Mal die Möglichkeit, mich beruflich neu zu orientieren. Wenn schon nicht als Kiepenfrau, tauge ich vielleicht als Wasserknecht. Einer der Eimer steht zum Ausprobieren bereit. Ich ziehe die Handschuhe auf, puste meine Finger warm und mache mich für mein Wasserknechtpraktikum bereit. Das Seil, an dem die Eimer hängt, ist nass und kratzig. Meine Finger wollen zurück in die Handschuhe. Der Holzeimer hat sich mit Regenwasser vollgesaugt. Ich wuchte ihn vom Regal und muss an die Kiepenfrau denken. Der Eimer macht mich fertig. Dabei ist gar kein Wasser drin.

Jetzt soll ich den Holzklotz ins Wasser tunken, das unter mir den Harz hinunterrauscht. Er wiegt mindestens so viel wie ein Weinfass. Für einen kurzen Moment halte ich den Eimer zwischen meinen rosa Fingern, die aussehen wie verzweifelte Regenwürmer, denen man Schockfrostung im Tiefkühler droht. Das Holz fühlt sich schmierig an, ich zögere – und stelle ich betonschwere Ding wieder zurück zu seinen Brüdern.

Den Job als Wasserknecht hänge ich an den Nagel – klar, dass die Wassereimertechnik im Bergbau auf Dauer keine Lösung war. Warum allerdings niemand irgendwas erfunden hat, um den Kiepenfrauen das Leben leichter zu machen, bleibt mir ein Rätsel.

Harzer Hexenstieg mit Brockenumgehung

Land: Deutschland

Anreise: Osterode, den Ausgangspunkt des Hexenstiegs, erreicht man mit dem Zug.

Gehzeit: Viereinhalb Tage für rund achtzig Kilometer (18. bis 22. November 2019). Ich bin die Brockenumgehung gelaufen und habe das Teilstück zwischen Elend und Rübeland ausgelassen. Von Rübeland aus bin ich der nördlichen Route gefolgt.

Herausforderungen: Kalt, kälter und noch mal kälter. Im November ist es ziemlich frostig im Harz. Es hat sogar ein wenig geschneit. Einmummeln also!

Der Weg ist gut ausgeschildert, nur an wenigen Stellen müsst ihr nach der nächsten grünen Hexe (dem Wegzeichen) ein wenig suchen.

Durch die Umgehung des Brockens ist die Steigung der Route moderat. Steilere An- oder Abstiege sind selten. Der Hexenstieg ist in dieser Variante entsprechend auch für Fernwanderanfänger geeignet.

Höhepunkte: Oberharzer Wasserwirtschaft, Kiepenfrau-Denkmal, zutrauliche Katze in Neuwerk, kleinste Holzkirche Deutschlands in Elend, Schnee, Bäume im Nebel, Infozentrum in Torfhaus, ehemalige innerdeutsche Grenze, Bodetalschlucht

Kiepenfrau am Hexenstieg
Kopftuch und Weidenkorb: So waren die Kiepenfrauen wohl einst im Harz unterwegs. Das hölzerne Denkmal steht direkt am Hexenstieg.