Elsass: Silben-Eclair

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Dieser Beitrag dreht sich um einen einzigen Satz. Und ein kleines bisschen um eine Wanderung im Elsass. Sie wäre ohne den Satz anders verlaufen. Schon deshalb soll er nicht vergessen werden – und weil er das Zeug zum Mantra hat.

Pinkfarbene Regenjacke und ein Satz wie eine Weltformel

Die Worte, um die es geht, fallen an einem Samstagmorgen, einem Spätsommertag mit Blaubeerhimmel. Es ist halb zehn; mein Freund und ich sind mit der Bahn unterwegs ins Elsass. Schräg gegenüber von uns sitzt eine Frau, etwa Mitte fünfzig, blondiertes Haar. Sie trägt eine pinkfarbene Regenjacke und Wanderschuhe. Um sie herum wahrscheinlich ihre Mitwanderer. Mit vergnügter Ernsthaftigkeit spricht sie den Satz in ihr Smartphone – als wären die wenigen Worte die alles erklärende Weltformel.

Was sie sagt, begleitet mich den ganzen Tag – ein putziger Bär, der nicht von meiner Seite weicht. Es ist ein guter Satz; zum geflügelten Wort geeignet, als Ausdruck für gesellige Zufriedenheit. Auf der Straße sollten wir uns das Bonmot als freundlichen Gruß zurufen. Ich bedauere, dass ich der Wandergenossin nicht zu ihrem Kunstwerk gratuliert habe. Einen solchen Satz kann ich mir nicht ausdenken, fast bin ich ein bisschen neidisch. Die Freude eines freien Wochenendes schwingt in diesem Satz mit; er sprudelt vor lebensbejahender Vergnüglichkeit. Nachdem sie ihn ausgesprochen hat, schweigt sie – der weitere Verlauf des Telefongesprächs geht im Geplapper der Fahrgäste unter.

Aussicht auf Flammkuchen

Mein Freund und ich wollen nach Wissembourg an der deutsch-französischen Grenze. Krähen sitzen auf den rasierten Feldern. Ich freue mich auf Herbstlaub, knusprige Flammkuchen und butterweiche Croissants. Da fällt er, dieser wohltuende einfache Satz. Die Frau sagt: »Wir haben jetzt schon Johannisbeerlikör getrunken.«

Ich möchte ihn drücken und knuddeln, diesen Satz, schmunzle und weiß: Es wird ein guter Tag. Vielleicht ein bisschen zu süß, verkitscht wie das Elsass: ein Silben-Eclair. Ich rezitiere stumm das kurzes Gedicht der Frau in Pink. Immer wieder summt der Ohrwurm ohne Melodie in meinem Kopf. Verharmlosend, alle Kritik am Alkohol vergessend, ich singe ein Loblied auf die menschliche Unvernunft!

Die Frau, mein Freund und ich sind nicht die einzigen in Ausflugslaune. Fans des ersten FC Kaiserslauten haben sich ein Schale geschmissen. Von roten Trikots und Aufnähern auf Jeanswesten starren uns die Teufelchen entgegen. An einer Station steigt eine Männergruppe aus, einige tragen Lederhosen. Radfahrer quetschen sich in die Abteile.

Stullen in Tupperdosen, Spirituosen im Rucksack

Die Satzdichterin, die morgens um halb zehn schon Johannisbeerlikör getrunken hat, gehört zur Kategorie »topfitte Rentner(anwärter)in«, erkennar an der neonfarbenen Outdoor-Kleidung. Die dazugehörigen Männer bevorzugen dezentes Grün und Braun.

Trotz kleiner kompakter Rucksäcke schaffen die Rentner(anwärter)innen es, einen nicht unerheblichen Vorrat an Spirituosen mit sich zu führen – nebst Tupperdosen voller Stullen und liebevoll geschnitzer Gemüsesticks. Dagegen sind die FCK-Fans mit ihren Bierdosen ein armseeliger Haufen.

Die Wortkünstlerin steigt schon in Neustadt aus; ihr Satz bleibt. Der Großteil der Ausflügler aus dem Rhein-Neckar-Raum macht sich auf in die Pfalz. Dabei hat das kaum weiter entfernte Elsass einen entscheidenen Vorteil: Es liegt in Frankreich.

Wenn ich dort wandere, beschwingen Chansons von Jacques Brel meine Füße (obwohl der eigentlich Belgier war). Der Teint französische Herbstwälder scheint mir bunter, die kleinen Kinder wohlerzogener. Aus Käsereien sickert der Duft von runden Camembert-Kissen, von eckigem Hartkäse, Rotschmiere und Blauschimmel, und verteilt sich zwischen den Fachwerkhäuschen. Auf den Kirchtürmen verschwimmen die Umrisse der Störche vor den Wolken.

An der Lauter entlang, dann auf den Col du Pigeonnier

Neben mir rennt die Lauter in die Altstadt von Wissembourg. Ich murmele ein weiteres Mal den Wundersatz. Er hüpft wie ein Spatz durch mein Gehirn, während ich auf den Col du Pigeonnier steige. Eine Wandergruppe sitzt auf einer Bank; sie schenken Schnaps aus, winken uns und wirken, als hätten sie schon Johannisbeerlikör getrunken.

Auf dem rund 430 Meter hohen Pass hält ein Mann in seinem Auto Siesta. Die Füße auf dem Lenkrad, die Türen weit geöffnet, das Radio laut, die Sonne auf den behaarten Beinen. Am liebsten würde ich ihm zurufen: »Haben Sie gehört? Wir haben jetzt schon Johannisbeerlikör getrunken! Was halten Sie davon?«

Durchschnittliche Tour mit Zuckerguss

Die Tour ist durchschnittlich; außerhalb der mittelalterlichen Fassaden, Mauern und Kirchen von Wissembourg führt sie eine Weile an einer Straße entlang, auf der Motorräder heulen. Viel Wald und wenig Aussicht; die Hütte auf dem Col du Pigeonnier hat an diesem Tag geschlossen. Aber dieser eine Satz hat die Wanderung mit Zuckerglasur überzogen.

Am Ende der Tour liegt das »Kräutercafé«. Auf meinen Teller fällt die Nachmittagssonne, blendend weiß, daneben ein Stück Apfel-Marzipan-Torte. Rentner(anwärter) schlürfen Kaffee, auf der Terrasse sitzen Motorradfahrer mit dunklen Sonnenbrillen. »Wir haben jetzt schon Johannisbeerlikör getrunken«, lache ich meinem Freund entgegen. Der Satz zergeht mir auf der Zunge und mischt sich in die bittere Süße der Mandeln und das weiche Fleisch goldener Äpfel.

 

Elsass: Rundwanderung an der Stadtmauer von Wissembourg über den Col du Pigeonnier

Land: Frankreich (Elsass)

Anreise: Wissembourg (Weißenburg) ist beispielsweise von Neustadt in der Pfalz aus mit der Bahn erreichbar. Die Tour könnt ihr direkt am Bahnhof starten.

Gehzeit: etwa viereinhalb Stunden für rund 15 Kilometer (21. September 2019)

Herausforderungen: An einigen Stellen ist der Weg nicht eindeutig beschildert; Karte, Handy oder GPS sind hilfreich. Der Anstieg auf den Col du Pigeonnier ist eher sanft, also nicht allzu kräftezehrend.

Höhepunkte: Alstadt und Stadtmauer von Wissembourg, die Lauter, Rast unter einem Kastanienbaum, Spätsommersonne, Kuchen im Kräutercafé, elf Meter hohes Gemälde des Heiligen Christopherus in der Kirche St. Peter und Paul

Du magst Wandergeschichten aus Frankreich? Oder suchst nach Inspiration, was das Nachbarland zu bieten hat. Dann findest du hier mehr Lesefutter.

 

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