Allgäu: Gib mir Zucker, Baby!

 

Drei-Schlösser-Tour inklusive Neuschwanstein

Wenn ich schon mal da bin, kann ich mir Neuschwanstein ja mal ansehen, finde ich. Obwohl ich schon weiß, wie Neuschwanstein aussieht. Das gibt mir zu denken. Was macht das Märchenschloss in meinem Kopf? Es klebt wie Puderzucker in meinen Hirnzellen.

Mein Freund und ich haben in Bad Faulenbach bei Füssen im Allgäu eine Ferienwohnung bezogen, nur ein paar Kilometer vom Märchenschloss entfernt. Der Drei-Schlösser-Wanderweg liegt vor unserer Haustür. Wir laufen los, und ich mache mir Sorgen, dass die Zuckerkristalle in meinem Großhirn mich in ein Marzipanschwein verwandeln, das niedliche Grunzlaute von sich gibt, ansonsten aber zu nicht viel zu gebrauchen ist.

 

Kaufe ich mir bald ein Set Teelöffel?

Was passiert mit mir, wenn ich mich in die durchkommerzialisierte Vermarktungsmaschinerie von Neuschwanstein stürze? Ich traue mir nicht. Sicher gibt es Seiten in mir, die besser verborgen bleiben.
Vielleicht werde ich nicht widerstehen können und mir ein Set Neuschwanstein-Teelöffel kaufen oder eine Schneekugel mit Minischloss. Dann ist es nicht mehr weit, bis ich anfange, Arztromane zu lesen, Hummel-Figuren in eine Vitrine zu stellen und mir eine CD von Stefan Mross kaufe. Ich ende als süßer Fettfleck auf dem Cover eines Bergdoktor-Groschenromans.

Rund anderthalb Millionen Touristen besuchen das Märchenschloss pro Jahr. Neuschwanstein ist für viele Deutschlandbesucher ein „Must-See“ – ich kann es irgendwie nicht ganz ernst nehmen. Das Schloss tut so, als käme es aus dem Mittelalter, dabei ist es noch nicht einmal zweihundert Jahre alt. Es präsentiert sich als wehrhafte Ritterburg und liegt doch schutzlos ohne Verteidigungsanlagen auf seinem Hügel. Neuschwanstein ist ein vorgetäuschter Orgasmus. Ein Architekturporno, vor dem man sich eine Portion romantischer Verklärung runterholen kann.  

 

Einmal ohne schweißnasse Achseln den Berg hoch

Und wenn ich darauf stehe? Was wäre so schlimm daran, mich als eine dem Kitsch verfallene Kleinbürgerin zu outen? Ich könnte mir den Puderzucker von der Haut lecken. Oder als Prinzessin in einer Kutsche den Schlossberg hinauffahren, statt mich wie üblich mit schweißnassen Achseln den Remmel raufzuquälen. Marzipanschweine sind schließlich eher lauffaul.

Das Allgäu war für mich ein Sehnsuchtsort, etwas, das mich fortzieht wie ein Versprechen oder eine makellose Erinnerung. Ich bin skeptisch. Überhöhte Erwartungen sind schwer zu erfüllen. Wenn es mich weder in die Wüste, noch in die Arktis zieht, ich gut sterben kann, ohne die Rocky Mountains oder den Regenwald gesehen zu haben, sondern mich aufs Allgäu freue wie ein Hund über einen Kauknochen, was sagt das dann über mich? Das Blut des Marzipanschweins fließt in meinen Adern. Ich muss mich damit abfinden, dass in mir mehr Herzbuben-Heiterkeit steckt als Rebellion.

Vor unserem Urlaub bin ich ein paar Mal durchs Allgäu gefahren. Ich habe die Berge gesehen, die Weiden und die Kirchen. Dabei muss es passiert sein. Seitdem träume ich von dem Geruch nach Heu. Von Milch und Bergkäse. Und irgendwoher kam dann auch noch das Schloss.

 

Hinter den Weiden regiert der Stein

Vielleicht ist es der Kontrast: die Steilwände der Alpen, bedrohlich wie ein schartiges Messer, davor das gezähmte Land. Hinter dem Allgäu  herrscht der Stein. Die Häuser im Umland tragen Holzfassaden, als wären sie direkt aus dem Wald gewachsen. Ludwig II. hat den Platz für sein Prunkschloss gut gewählt.

Am Fuße von Neuschwanstein ist es vorbei mit dem romantischen Vorspiel. Es geht zur Sache. Autos schlängen sich auf die Parkplätze. Radfahrer schieben die letzten Meter. Die Toilette kostet fünfzig Cent.  Souvenirs, Souvenirs! Schloss Neuschwanstein saugt seine Gäste alle ein und spuckt sie leicht anverdaut wieder aus. Nur die Japaner und die Amerikaner fehlen. Im Corona-Jahr ist Neuschwanstein in deutscher Hand.

 

Prozession der Marzipanschweine

In einer unheiligen Prozession steige ich langsam zum Schloss auf, mit Hunderten anderer Marzipanschweine, die an diesem Tag gekommen sind, um sich bezaubern zu lassen. Auf einer Bank ruht sich eine ältere Frau aus, ihren Hund auf dem Schoß. Kinder lecken an ihrem Eis.

Am Aussichtspunkt liegt Neuschwanstein dann vor mir: weiße schmale Glieder in der Mittagssonne, Fenster wie Sommersprossen, Türmchen und Zinnen wie Spitzenunterwäsche. Das Schloss posiert wie ein Supermodel. Ich muss zugeben: ein gelungener Porno. Die Schlossführung sparen wir uns. Gruppensex ist nichts für mich. Genug Zucker für heute.

 

Drei-Schlösser-Weg im Allgäu

Land: Deutschland (Bayern)

Anreise: Füssen ist mit der Bahn erreichbar. Vom Bahnhof aus sind es rund fünf Minuten zur Wanderstrecke.

Gehzeit: Rund fünfeinhalb Stunden für etwa 15 Kilometer (2. Juni 2020).

Herausforderungen: Die Beschilderung in Füssen ist eindeutig. Dort ist der Drei-Schlösser-Weg gut markiert. Allerdings verliert sich seine Spur kurz vor Neuschwanstein. Ihr braucht dort eine Karte oder sonstige Navigationshilfen, um die vorgesehene Route einzuhalten.

Auf der Strecke benötigt ihr ein bisschen Puste. Es gibt mehrere steile Anstiege, darunter der Kalvarienberg direkt hinter Füssen oder der Schlossberg von Neuschwanstein. Die Wege sind allerdings allesamt breit und gut begehbar.

Höhepunkte: Kalvarienberg, Schwansee, Sumpf mit Libellen,  Neuschwanstein, Schloss Hohenschwangau,

Wegstrecke oberhalb des Schwansees

2 Kommentare Gib deinen ab

  1. Anke sagt:

    … haha, wir haben vor ein paar Jahren mal auf der Durchreise nach Österreich einen Stopp in Füssen und Neuschwanstein gemacht. Ich wollte verstehen, warum es halb Japan da hinzieht. Habe ich aber nicht. Und die Führung innen war auch, ich sag mal, sehr unsexy. Habt ihr nichts verpasst. Tipp an alle Japaner und Amerikaner: Macht lieber eine nette Wanderung, wenn ihr in der Gegend seid, und spart euch den Quatsch.

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    1. Jana sagt:

      Liebe Anke, ich befürchte, dass diesen Weg nur wenige Japaner und Amerikaner lesen :). Aber gut zu wissen, dass wir nichts verpasst haben. Liebe Grüße!

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