Marlborough Sounds: Unter Steinen

An diesem Tag habe ich zu viel Zeit. Mindestens eine Tonne davon. Minuten im Übermaß und unendliche Sekunden.

Mein Freund und ich könnten Pläne schmieden, wie man den Plastikmüll aus dem Ozean schafft. Oder eine Initiative zum Schutz der australischen Ameisenigel gründen. Oder Erleuchtung durch Meditation erlangen. An diesem Nachmittag fällt uns aber nichts anderes ein, als Steine umzudrehen.

Es ist der erste Tag auf dem Queen Charlotte Track in den Marlborough Sounds: einundsiebzig Kilometer durch die Fjorde im Norden der Südinsel Neuseelands.

Ein Platz am Meer

Der erste Zeltplatz am Queen Charlotte Track namens School House Bay schmiegt sich in eine Bucht, wir campen nur wenige Meter vom Meer entfernt auf einer zimmergroßen Grasfläche. Vom Fähranleger Ship Cove, wo der Wanderweg beginnt, waren es nur rund zwei Stunden bis zum Zeltplatz. Bis zum nächsten war es uns zu weit, das wären noch mal sieben Stunden gewesen. Wir haben den Zeltplatz für uns allein.

Ein fast wolkenloser Himmel schwebt warm über uns, und ich frage mich, was ich den ganzen Tag in einer einsamen Bucht soll. Ohne Internet. Ohne Strandcafé. Ohne irgendwas zu tun.

Bevor ich dazu komme, näher über diese Frage nachzudenken, stakst ein hühnerartiger Vogel um unser Zelt: ein Weka, wie ich vom Infoschild weiß. Mein Freund zeigt ihm, wer der Herr auf dem Campingplatz ist. Mit den Armen wedelnd, klatschend, rennt er wie eine lebendige Vogelscheuche hinter dem Federvieh her, bis es sich ins Gebüsch verzieht. Lange hält dieses Manöver den Weka nicht ab. Er spaziert auf seinen dünnen Beinen bald wieder herbei, mein Freund jagt ihn weg. Der Vogel schleicht sich von hinten ans Zelt, mein Freund entdeckt den Vogel, und das Schauspiel beginnt zu meiner Erheiterung von vorn.

Ein Vogel auf Raubzug

Falls ihr Mitleid mit dem Weka habt: An der Campsite Black Rock, zwei Tage später, werden wir es verpassen, die Fronten zu klären. Kaum verlassen wir unser Zelt, um im Unterstand Abendessen zu kochen, treibt der Weka sein Unwesen und plant einen Raubüberfall. Meine Regenjacke schleppt er aus dem Zelt. Er schändet unsere Rucksäcke. Die Beweislage ist eindeutig: Der Weka hatte es auf die Nüsschen abgesehen, die mein Freund in der Seitentasche seines Rucksacks hatte. Die Nusstüte ist zerfetzt, der Rucksack hat den Schnabelattacken standgehalten.

Zurück zur Bucht: Ich lese, döse in der Sonne, studiere die Mensch-Weka-Interaktion.

Muße nennt man das wohl, aber dazu gab’s keinen Kurs an der Uni. Muße kann ich nicht. Die Fortbildung Muße effizient gestalten habe ich noch nicht besucht.

Also hoffe ich, dass ein Pinguin angespült wird. Den würde ich retten, mich à la Baywatch-Rettungsschwimmer ins kristallklare Nass stürzen und den Pinguin wiederbeleben (das kann ich, habe ich im Outdoor-Erste-Hilfe-Kurs gelernt). Der Pinguin spuckt ein bisschen Wasser, beginnt wieder zu atmen, verleiht mir den Titel Pinguin ehrenhalber, lädt alle seine Freunde ein und wir feiern eine große Strandparty. Immerhin einen kleinen blauen Pinguin hatten wir von der Fähre nach Ship Cove aus gesehen. Einsam schwamm er als gefiedertes Schlauchboot im tongrauen Meer, den Kopf über Wasser wackelte sein Körper wie verloren über die Wellen.

Ich flaniere also in der Bucht umher, allzeit bereit für Pinguinrettungseinsätze. Die Bucht habe ich rasch durchschritten, sie ist etwa fünfzig Meter breit, in der Mitte geteilt von einem flachen Bach, der sich über ein Bett aus Kieseln im Meer verliert. In dem winzigen Delta atmen Süß- und Salzwassermuscheln. Ein schlanker Vogel, der aussieht wie ein Herr im grauen Anzug, stolziert am Ufer.

Die Muße ist immer noch da. Hängt mit mir rum. Es ist schon später Nachmittag, als wir ein Brummen und Rattern hören. Eine Yacht ankert in der Bucht. Die Bootsleute werfen eine Angel aus und ich bin mir sicher, dass sich irgendein Promi auf dem Schiff versteckt. Oder ein Multimillionär. Den würde ich auch retten, auch wenn mir der Pinguin lieber wäre.

Mein Freund hat vor lauter Muße auch schon mit dem Flanieren angefangen. Nach ein paar Minuten Müßiggang schlendert er mir entgegen und grinst. Er habe etwas entdeckt, sagt er stolz.

Er führt mich zu den Steinen am Ufer, dreht einen um, und ich flippe aus. Auf einmal ist da eine unbekannte Unterwelt. An unserem stillen Strand herrscht in Wahrheit weder der Weka noch wir, sondern eine Armee winziger Krustentiere.

Sobald wir den Stein anheben, huschen die winzigen Krebse aus der Sonne. Seltsame Muscheln, die aussehen, als wären sie Überbleibsel aus der Urzeit hocken neben glitzernden Wasserschnecken, die gemächlich über die Steine kriechen. Daneben kleben murmelgroße geleeartige Kugeln. Ich traue mich nicht, sie anzufassen. Könnten ja giftig sein. Wie weiche lilafarbene Murmeln sehen die Kugeln aus, in der Mitte ein winziges Loch wie mit einer Nadel gestochen. Sie bewegen sich nicht. Wir rätseln: Fischeier? Schleimpilze? Nacktschnecken?

Jetzt ist die Show eröffnet: Stein umdrehen, gucken, wie die Krebse wuseln, Stein zurückdrehen, nächster Stein. Unter jedem haust eine Krebs-WG und allerlei absonderliches Küstengetier. Der Millionär hat seine Yacht, aber wir haben die Steine!

Dann ist Zeit fürs Abendessen. Wir sitzen am Picknicktisch und diskutieren unsere Entdeckungen

Komm wir gehen noch mal zu den Steinen, sagt mein Freund später.

Ich freue mich auf noch mehr Krebse mit überdimensionierten Scheren, die seitwärts über die Felsen rennen oder sich im Sand verbuddeln. Was ich nicht weiß: Gleich werden wir das Rätsel um die Geleekugeln lösen.

Mittlerweile ist das Wasser etwas gestiegen, es ist Flut. Auf den Steinen, die jetzt unter Wasser liegen, winken uns kleine Seeanemonen mit ihren Tentakeln zu. Sie wiegen sich in der Strömung.

Verdächtig, sage ich, sie haben die gleiche Farbe wie die Kugeln. Wir beschließen, ein Experiment zu wagen. Wir legen einen Stein samt Kugel, der noch im Trockenen liegt, ins Wasser und warten. Langsam, von der Mitte aus, öffnet sich das Geschöpf, streckt eine Tentakel nach der anderen aus. Ich bin selig: Ich habe gesehen, wie sich eine Seeanemone entfaltet.

Danke, liebe Muße! Wenn du das nächste Mal nichts zu tun hast, schau gerne vorbei!

Violette Seeanemonen Wenn die Flut kommt, strecken die Seeanemonen ihre Tentakeln aus.

Marlborough Sounds: Queen Charlotte Track

Land: Neuseeland (Südinsel)

Anreise: Von Picton aus lässt sich der Ausgangspunkt der Wanderung per Boot erreichen. Zurück nach Picton kommt man ebenfalls mit dem Boot. Wir sind noch weiter gewandert bis zum Campingplatz Momorangi Bay. Von dort aus sind wir nach Picton getrampt. Prinzipiell ließe sich auch noch von Momorangi nach Picton wandern. Über weite Teile der Strecke führt ein Wanderweg an der Küste entlang.

Gehzeit: viereinhalb Tage für 71 Kilometer (8. bis 12. Dezember 2018). Man kann den Weg auch in drei Tagen laufen (Gepäcktransport zu bestimmten Campsites ist im Preis für den Bootstransfer inbegriffen).

Herausforderungen: einige steilere Anstiege, teils wenig Schatten (Mütze und Sonnenmilch einpacken). Der Weg ist gut ausgeschildert, und da es fast nur diesen einen Weg gibt, kann man sich kaum verlaufen. Die kleine Infobroschüre, die man zum Beispiel in der Touristeninformation in Picton oder auf der Internetseite des Department of Conservation bekommt, ist zur Orientierung völlig ausreichend.

Höhepunkte: Pinguin, Weka (flugunfähiger neuseeländischer Vogel), Wasserfälle und Bächlein am Weg, Seeanemonen, Muscheln, Kaffeetrinken in einem der Ressorts am Weg, die Campingplätze (wir haben folgende Plätze genutzt: School House Bay, Camp Bay, Black Rock, Mistletoe Bay), blühende Manuka-Bäume, Aussichtspunkte

8 Kommentare Gib deinen ab

  1. Liebe Jana,
    Wieder mal ein wunderschön geschriebener, poetischer Bericht. Ich genieße jedes Wort!
    Ich weiß ja nicht, wie zeitversetzt oder live du aus Neuseeland berichtest, ob ihr noch down under seid oder wieder zurück in der Heimat? Ich glaube, ihr seid noch in Neuseeland.
    Dann wünsche ich euch mal ein sonniges, warmes und so ganz anderes Weihnachtsfest!
    Alles Gute
    Aurora

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    1. Jana sagt:

      Die Weihnachtswünsche sende ich gerne zurück. Wir sind noch in Neuseeland, erst im März geht es nach Japan.

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  2. Joachim Schulz sagt:

    Hallo Jana,
    sehr schöner Bericht und auch schöne Bilder, es versetzt mich auch wieder in meine Zeit, die schon 12 Jahre her ist, zurück nach Neuseeland, vielleicht packe ich es noch mal dahin. Euch wünsche ein frohes und weiterhin warmes Weihnachtsfest und weiterhin noch sehr spannende und schöne Eindrücke.
    Liebe Grüße
    Joachim

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  3. Oh Japan, wie coll! Und wie anders 🙂

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  4. Thomas Piehler sagt:

    Liebe Jana,
    deine Blog-Einträge sind für uns immer wieder eine amüsante Abendunterhaltung, bei der wir ein wenig über unseren Endersbacher Tellerrand hinausschauen. Du schreibst einfach toll.

    Liebe Grüße an euch beide und weiterhin trockene Füße wünschen
    Tom & Annemarie

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    1. Jana sagt:

      Lieber Thomas,
      freut mich sehr, dass ich zu eurer Abendunterhaltung beitragen darf. Ich freue mich schon, euch wiederzusehen. Vorher krabbeln wir noch ein bisschen über unseren Tellerrand bis nach Japan. Neuseeland verlassen wir Ende Februar. Liebe Grüße für Euch!

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