Cairngorm-Runde (Teil 5): Auf dem Seeweg

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»Tiegelregal ist kein Wort«, schimpfe ich. »Das ist gegen die Regeln.«

»Tiegelregal ist sehr wohl ein Wort, ein wunderbares zusammengesetztes Wort für ein Regal mit Tiegeln«, sagt mein Freund.

»Es muss ein gebräuchliches Wort sein.« Ich seufze. »Sonst könntest du lauter sinnlose Wörter bilden, Glasmütze oder Mützentiger zum Beispiel.«

Selbstfindungstort(o)ur am Loch Avon

 

Seit rund anderthalb Stunden stolpern wir am Hang des Lake Avon entlang. Glitschige Steine, Felsbrocken, Matsch und widerborstiges Heidekraut kratzen an meiner Kondition. Tag sechs der Wanderung durch den schottischen Nationalpark Cairngorms entpuppt sich als Selbstfindungstort(o)ur: »Entdecken Sie die Grenzen Ihrer Frustrationstoleranz. Lernen Sie, was Langsamkeit bedeutet. Üben Sie Gelassenheit im Angesicht des peitschenden Windes.« Im tiefsten Inneren meines Herzens bin ich ein Weichei.

Für die knapp elf Kilometer der Etappe von der Faindouran Lodge zum Lake Avon benötigen wir letztlich fünf Stunden. Damit ist meine Frustrationstoleranz aufgebraucht. Mein Hirn will die Selbstzerstörungssequenz einleiten.

Das Kompositaspiel rettet mich vor dem Amoklauf. Immer abwechselnd müssen die Spieler ein zusammengesetztes Wort finden, das mit dem zweiten Wortbestandteil des Vorgängerwortes beginnt: Spielregel. Regelwerk. Werktag. Tagestour. Tourenwanderer.

Laut Reiseführer gibt es auf unserer Seite des Lochs Avon genauso schöne Sandstrände zum Zelten wie am anderen Seeufer. Die Sandstrände auf unserer Seite sind aber allesamt unbrauchbar: zu klein für das Zelt oder zu nah am Wasser. Mein Freund befürchtet, dass der Seepegel nachts steigt und wir überflutet werden. Ich halte das für unwahrscheinlich, finde aber keine geeigneten wissenschaftlich plausiblen Argumente, um seine These zu widerlegen.

Ich fasse den Plan, auf unseren aufblasbaren Isomatten ans andere Ufer zu paddeln, als das Südwestende des Sees in Sicht kommt. Der ersehnte Sandstrand bettet sich zwischen graue steile Felswände, an denen Wasserfälle als Rinnsale den Berg hinabplätschern.

Bergsee in Nebelsuppe

Ich hatte von einem romantischen Abend am See geträumt, mit Sonnenuntergang und Baden im Mondschein. Einer der schönsten Bergseen Schottlands, mit Wasser so klar, dass sich kein Seeungeheuer dort lange verstecken könnte, tunkt sich aber lieber in Nebelsuppe. Sonne und Mond haben frei. Die Cairngorms sind der Kühlschrank Schottlands. Der See, vermute ich, ist gefüllt mit den Tränen verfroren-verzweifelter Wanderer.

Das Abendessen am Seeufer überlebe ich dank Schichtenprinzip: Sämtliche vorhandenen Kleidungsstücke inklusive Handschuhe kommen zum Einsatz. Am liebsten würde ich mich in ein Schaf wickeln. Am See sind aber keine, denen ist hier auf fast 750 Metern Höhe zu frisch. Oder sie bekommen bei dem Wind eine Sturmfrisur, was ihnen peinlich ist.

Am nächsten Tag treten wir den Rückweg in die Zivilisation an. Wieder gut anderthalb Stunden am See entlang, über den Saddle, den höchsten Punkt der gesamten Tour. Der Weg zum Campingplatz in Glenmore führt nur noch bergab, lange am Lauf des Garbh Allt entlang. Es ist der Abschlusss unseres Reiseabenteuers in den Cairngorms: Abenteuerurlaub. Urlaubsreise. Reisetipp. Tippfehler. Fehlerteufel. Teufelstour. Tourenende.

Cairngorm-Runde (Etappe 6 und 7: von Faindouran Lodge über Lake Avon nach Glenmore; Tour 3 in: Doris Dietrich und Anja Vogel: Schottland: Central Highlands & Cairngorms Nationalpark)

  • Land: Großbritannien (Schottland)
  • Anreise: Faindouran war für uns der Endpunkt der vorherigen Wanderung.
  • Länge: knapp 11 Kilometer (Faindouran nach Loch Avon), 16 Kilometer (Loch Avon nach Glenmore)
  • Gehzeit: rund fünf Stunden von Faindouran nach Loch Avon (17. August 2017), sechs Stunden von Loch Avon nach Glenmore (18. August 2017)
  • Höhepunkte: Loch Avon, Saddle, Streckenverlauf am Garbh Allt, Green Lochan
  • Herausforderungen: Die Strecke am Loch Avon ist unwegsam; ein Weg nur schwer erkennbar. Teils starker Wind und Regen. Nach dem Fords of Avon Refuge, ein Mini-Bothy, gibt es auf der Strecke keinerlei Unterstellmöglichkeiten. Midges.

4 Kommentare Gib deinen ab

  1. lecw sagt:

    Wie schön! Die Runde sind wir 2012 auch schon gelaufen. Eine wirklich einmalige Tour. Vielen Dank für den Bericht!
    Steffi vom lecw.blog

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  2. lecw sagt:

    By the way: Als wir am Loch Avon waren, war es GANZ GENAU SO! Ich hatte vorher tollste Phantasien, wie toll es dort sein soll. Genau wie du: Baden im See, Sonnenuntergang, haha! 🙂
    Jedenfalls war ich total erschöpft vom Weg dorthin, man konnte NICHTS sehen und wir haben in der Tat unser Zelt am Strand aufgeschlagen. Weil es so SAUKALT war, habe ich in der Apsis gekocht. Und nachts hat es wir blöde geschneit. Im August. Aber was für ein Erlebnis! 🙂

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    1. Jana sagt:

      Ich dachte schon, ich sei ein Weichei. Es beruhigt mich, dass es andere dort auch ziemlich kalt finden. Immerhin hatte ich keinen Schnee …

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